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Die braune Rose

Die braune Rose

Titel: Die braune Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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1.
    Zuerst bemerkte es die dicke Erika.
    Sie schlief im zweiten Bett neben dem Fenster, einem begehrten Platz, weil es dort im Sommer – wenn im Schlafsaal pünktlich um 21 Uhr die Lichter gelöscht wurden – hell genug war, um noch zu lesen. Wie an jedem Morgen wachte sie auch jetzt mit einem langen Gähnen auf, reckte sich unter der Decke und blickte zur Wand hinüber.
    Das Bett rechts neben dem Fenster war leer.
    »Was ist denn das?« sagte Erika halblaut und setzte sich hoch. »Der Mohrenkopp ist wohl verrückt geworden?«
    Sie schob die nackten Beine auf den Fußboden, klopfte mit den Zehen auf den Kunststoffbelag und kratzte sich den dicken Hals und den Brustansatz.
    Das Bett rechts neben dem Fenster war nicht nur leer, es war auch schon in Ordnung gebracht. Das Kissen war aufgeschüttelt, die Decke sauber zusammengefaltet, das Bettuch glattgezogen. Der Schemel, auf dem nachts die ausgezogenen Kleider lagen, stand genau in der Mitte vor dem Kopfende. Nur die Spindtür stand offen. Das Schloß gab immer wieder nach, und an den anderen Tagen hatte man ein zusammengefaltetes Stück dickes Papier dazwischengeklemmt, um die Tür festzuhalten. Es fehlte an diesem Morgen, es lag auf dem Kunststoffboden. Die einzige Unordnung in der Umgebung des Bettes an der Wand, rechts neben dem Fenster.
    Ja, und das Fenster stand offen. Die Luft war noch kühl, aber die Bäume trugen schon dicke Knospen, aus der locker geharkten Erde der Gartenbeete schoben sich die ersten Tulpenblätter hervor, und das winterfahle Gras begann, zartgrün nachzuwachsen.
    »Das ist 'n Ding«, sagte die dicke Erika und klopfte stärker mit den dicken Zehen auf den Fußboden. »Das kann doch nicht wahr sein.«
    Sie sah um sich. In den anderen sechs Betten schliefen sie noch. In die Kissen gewühlte, zerzauste Köpfe. Ein nacktes Bein, wie ein Pfahl unter der Decke in den Gang ragend. Ein halbverdeckter Schenkel. Ein geöffneter Mund mit piepsenden Schnarchlauten. Ein blonder, runder Kopf mit einem Gewirr von Lockenwicklern.
    Träge erhob sich Erika und patschte mit breiten, nackten Füßen zu dem offenstehenden Spind. Auch er war leer. An der Innentür klebte nur noch ein Bild von Heidelberg und ein Foto der Hafeneinfahrt von Lindau am Bodensee. Eine Farbpostkarte, Erinnerung eines gemeinsamen Ausfluges im vergangenen Sommer. Sonst war der Spind ausgeräumt. Das verblichene, gewachste Papier, mit dem die Zwischenböden ausgelegt waren, war alles. Und ein Knopf lag einsam im zweiten Fach von oben. Ein Nachthemdenknopf, weißes Perlmutt.
    »Das gibt 'nen Rummel!« sagte Erika und stützte sich an der Spindtür. »Der Mohrenkopp muß 'nen Stich haben.«
    Ein wenig schneller als zuvor ging sie in die Mitte des Schlafsaales und stemmte die Arme in die Seiten.
    »Aufwachen!« brüllte sie. »Aufwachen!«
    Aus den Kissen fuhren die Schlafenden empor. Das Bein, der Schenkel verschwanden; mit kleinen, schlaftrunkenen Augen saßen die Mädchen im Bett.
    »Wohl verrückt geworden?« stöhnte die mit den vielen Lockenwicklern. »Wie spät ist es denn?«
    »Etwas nach halb sechs.«
    »Idiot! Noch 'ne halbe Stunde.«
    »Der Mohrenkopp ist weg«, sagte die dicke Erika genußvoll. »Auf und davon. Nur 'n Knopf ist noch da von ihr.«
    Die Mädchen saßen starr in den Betten. Es war eine Sekunde des Schreckens, des Erkennens und der Lähmung. Dann sprangen sie wie auf ein Kommando heraus und umringten das sauber gemachte, verlassene Bett und den offenen Spind.
    »Mein Gott«, sagte Barbara. Es war die mit dem pfahlartigen Bein. »Wo will die denn hin? Gerade die? Die fällt doch sofort überall auf.«
    »Mutter Erna wird einen Schlag bekommen.«
    »Wir müssen es ihr sofort sagen.«
    »Und dann wird die Polizei kommen.«
    »Bestimmt.«
    »Ich gehe zu ihr.« Die dicke Erika zog ihren Bademantel an und angelte mit den Zehen nach den Pantoffeln unter ihrem Bett. »Der Mohrenkopp hat doch gar nichts gesagt, daß sie es hier satt hat? Oder hat sie?«
    »Nein.«
    »Und der Liebling von Mutter Erna war sie auch.«
    »Na, das wird was geben.« Erika fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die harten Haare. Es ersetzte für diesen Gang das Kämmen. »Die hat doch gar keine Ahnung, wie es draußen aussieht. Unsereiner wird täglich acht Stunden an die Fabrik ausgeborgt … aber der Mohrenkopp war immer hier. Die muß verrückt geworden sein.«
    Ein wenig schneller als sonst schlurfte Erika aus dem Schlafsaal. Die anderen standen um das leere Bett und den leeren Spind herum.

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