Wach auf, wenn du dich traust
Deborah
»Zieh den einfach drüber«, sagte die Krankenschwester und drückte Deborah einen Kittel in die Hand.
Neonlicht tauchte den Raum in ein mattes Gelb. An der Wand hing eine ganze Reihe weiterer Kittel. Intensivstationskittel in undefinierbarem Hellblau. Deborah schluckte trocken.
»Danke«, krächzte sie und pfriemelte sich das Teil ungeschickt über den Kopf. Ihre Unterlippe zitterte. Deborah biss so fest darauf, dass es schmerzte.
»Ich finde gut, dass ihr das macht«, sagte die Schwester, »wirklich. War das deine Idee, das mit der Liste?«
Deborah schüttelte den Kopf und sah schnell zur Seite. Die Liste. Vermutlich wäre es nicht schlecht gewesen, wenn es wirklich ihre Idee gewesen wäre.
War es aber nicht.
»Und ihr wechselt euch ab?«, fragte die Schwester weiter. »Jeder eine halbe Stunde und dann der Nächste?« Als Debbie nickte, schnalzte sie mit der Zunge. »Wirklich toll«, sagte sie. »Jenny kann froh sein, solche Freunde zu haben.«
Am liebsten hätte sich Deborah auf eine der schmalen Bänke an der Wand des fensterlosen Raumes fallen lassen und wäre nicht wieder aufgestanden. Vielleicht hätte die Krankenschwester ihr über den Kopf gestreichelt. Die so nett war. Die sie anlächelte. Die glaubte, dass Jenny und sie gute Freundinnen waren. Beste Freundinnen.
Deborah versuchte, Luft zu holen. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Die Zeit, in der es so was wie Freundschaft zwischen ihnen gegeben hatte, schien endlos weit entfernt. Dabei war es doch erst einen Tag her.
Die Schwester deutete auf einen Kasten, der an der Wand hing.
»Ich zeige dir, wie du dir die Hände richtig desinfizierst«, sagte sie, ging zu dem Behälter und drückte kräftig auf einen Hebel. Eine durchsichtige Flüssigkeit spritzte auf ihre Hände. Deborah stand langsam auf und tat es ihr nach.
»Bringt es überhaupt was?«, fragte sie mit schleppender Stimme, während sie das stinkende Zeug in ihre Haut einmassierte. »Ich meine – wird sie wirklich wieder aufwachen, wenn wir…«
Wenn wir mit ihr reden, hatte Luzia gesagt, kann es sein, dass wir sie zurückholen können. Auch Sebastian hatte das gesagt. Er hatte herumgedruckst und war kaum zu verstehen gewesen. Aber er hatte es gesagt.
Deborah wusste nicht, ob es stimmte.
»Das ist schon möglich«, sagte die Schwester. Dann lächelte sie und nickte in Richtung Flur. »Komm! Es ist leichter, wenn man erst mal da ist.«
Deborah nickte, obwohl sie keine Sekunde lang daran glaubte, dass irgendetwas es ihr leichter machen könnte. Wahrscheinlich sagte die Schwester das zu jedem, weil sonst niemand den Weg von der Kleiderkammer über den grünen Intensivstationsflur bis in die Zimmer finden würde. Deborah trottete der Frau hinterher. Kurz musste sie an einen Film denken, den sie einmal gesehen hatte – der zu Tode Verurteilte schleppte sich in Fußfesseln den Gefängnisflur zur Hinrichtung entlang. In winzigen Trippelschritten, weil die Fesseln verhinderten, dass er während des letzten Gangs in seinem Leben noch weit ausholte.
Aber Debbie würde nicht sterben, nicht hier und jetzt. Sie war lebendig und hatte einen winzigen Moment lang die absurde Sehnsucht, an Jennys Stelle zu sein. Nichts mehr fühlen, die anderen nicht sehen, die alleine waren mit sich und den Gedanken in ihrem Kopf, die nichts tun konnten, als zu hoffen. Das schien ihr in diesem Moment geradezu verlockend.
Dann würde sie, Deborah, daliegen und die anderen würden zu ihr kommen. Sie ansehen und traurig sein. Vielleicht sogar um sie weinen.
Vielleicht wäre auch Silvio dann traurig. Vielleicht würde er erkennen, wie wichtig sie ihm eigentlich war.
Als die Schwester auf eine Zimmertür zusteuerte, bekam Deborah plötzlich Herzklopfen. Was war, wenn Jenny überhaupt nicht mehr aufwachte? Wenn sie in der Zeit, seit sie mit der Schwester in dem Nebenraum gewesen war, bereits aufgehört hatte zu atmen?
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Im letzten Moment schluckte Deborah den sauren Geschmack hinunter, der in ihrer Speiseröhre aufstieg. Sie musste husten und hielt sich die Hand vor den Mund.
Was würde passieren, wenn man sich in ein Intensivzimmer erbrach? Würde sie Jenny mit dem bakterienverseuchten Inhalt ihres Magens töten?
Dabei hatte sie wahrscheinlich seit fünfzehn Stunden nichts mehr gegessen. Vielleicht nehme ich ab, dachte Deborah, und noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, schämte sie sich dafür. Trotzdem – in einer automatisierten Geste legten sich
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