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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er sah zu ihr auf. Da war etwas wie ein feines Lächeln in seinem Gesicht. Hinter ihnen öffnete sich die Tür, und die Sekretärin, die nie hätte weggehen sollen, kam wieder herein und blieb an der Wand stehen, verwirrt und ein wenig ängstlich.
    »Mein Gott, du bist ja krank, Bertil«, sagte Gitta. »Völlig krank. Die einzige Person, die du bloßgestellt hast, bist du selbst.«
    »Ich habe nur dafür gesorgt, dass die Wahrheit herauskommt«, antwortete Bertil.
    »Ja, das hast du«, sagte Gitta. »Und die Wahrheit ist, dass du spinnst.«
    Er lag noch immer vor ihr auf dem Boden, hilflos wie ein auf den Rücken gefallenes Insekt, und die Wut kochte in ihr über. Sie hob den Fuß – und hielt inne.
    »Nein«, sagte sie, »ach was. Du bist ja nicht mal die Tritte wert. Ich hoffe für dich, dass sie dich von der Schule schmeißen.«
    Sie knallte die Tür hinter sich zu und stand draußen vor dem Schuldirektor und mehreren Lehrern.
    »Tun Sie das«, sagte sie zu ihnen. »Schmeißen Sie ihn von der Schule. Sparen Sie sich die Papierkosten für das Abiturzeugnis.«
    Der Direktor hielt sie am Arm fest.
    »Was ist hier eigentlich los?«, fragte er. »Stimmt diese ganze Geschichte? Und von wem reden Sie? Tannatek?«
    »Abel?«, fragte Gitta und schnaubte. »Abel hat sich heute selbst von dieser Schule geworfen. Den sehen Sie nicht wieder. Ich rede von Bertil Hagemann.«
    In der Wohnung im vierten Stock der Amundsenstraße 18 öffnete niemand. Nicht einmal Frau Ketow stand unten hinter ihrem Türspalt und lauschte. Sie hörte ihre Stimme inmitten von Kindergeschrei hinter der Wohnungstür. Natürlich, dachte Anna, Frau Ketow hatte es aufgegeben, ihre Hände nach Micha als einem weiteren bezahlten Pflegekind auszustrecken, sie war in einer Gondel unter einem Heißluftballon zurückgesegelt zu ihrer eigenen Insel, ihrer verblichenen und verbrauchten Insel mit dem Wald aus aufgeräumten Regalen und den Wiesen aus farbloser, trostloser und irgendwie würdeloser Auslegeware.
    Hinter der Tür mit dem Namen Tannatek war alles still.
    Abel ging nicht an sein Handy. Sie fuhr zurück in die Stadt, fuhr kreuz und quer die Straßen entlang, sie suchte, ohne eine Spur zu haben, sie fand ihn nicht. Einen Moment lang glaubte sie, er säße in einem Stuhl am Bett des Leuchtturmwärters in der Klinik, doch dort saß niemand. Der Knaake lag noch immer mit geschlossenen Augen unter seiner grünen Herzschlaglinie, stumm.
    »Haben Sie das gewusst?«, flüsterte Anna. »Über Abel? War es das, was Sie herausgefunden hatten?«
    Und was, wenn noch etwas anderes zwischen diesen beiden passiert war, zwischen Abel und seinem Lehrer? Nein. Oh nein, sicher nicht. Sie verließ die Klinik, um den Gedanken loszuwerden. Sie fuhr wieder hinaus, diesmal zu Michas Schule. Der Schulhof war leer. Idiotin, sie hätte früher kommen müssen, es war inzwischen halb zwei. Er ging noch immer nicht ans Telefon.
    »Sie machen einen Ausflug«, flüsterte sie in die Tauluft des verlassenen Hofs. »Auf die Insel. Oder irgendwohin. Sie kommen wieder. Sie sind auch damals wiedergekommen. Sie tauchen schon wieder auf.«
    Was damals noch aufgetaucht war, war Marinkes Leiche gewesen. Und bis jetzt wusste Anna nicht genau, wann er gestorben war. Er konnte genauso gut in der Nacht gestorben sein, ehe Abel und Micha auf die Insel gefahren waren. Warum fiel ihr das jetzt ein? Bertil, dachte sie. Was hatte Bertil gesagt? Ich bin doch nicht lebensmüde.
    Sie hatte seine Nummer gespeichert – wozu? Sie zögerte. Aber dann rief sie doch an. Das Telefon klingelte lange und Annas Knie wurden weich. Eine Mailbox. Sie sprach nichts darauf. Sie stieg auf ihr Rad und fuhr langsam zurück nach Hause.
    Ihr Handy klingelte, als sie das Rad vor der Haustür abstellte.
    Sie riss es ans Ohr, ohne aufs Display zu sehen. »Ja?«
    »Anna«, sagte Bertil. »Du hast angerufen, ich habe die Nummer gesehen …«
    »Ja«, sagte sie und atmete auf. »Ich wollte nur wissen, ob …« Was sollte sie sagen? Ob du noch lebst?
    »Es tut mir leid«, sagte Bertil. »Was ich getan habe. Es war vielleicht nicht der richtige Weg … es ging mir nur um die Wahrheit.«
    »Mir geht es auch um die Wahrheit«, sagte Anna, und plötzlich fühlte sie sich leicht. »Und eine Wahrheit weiß ich jetzt. Ich weiß, wer Lierski und Marinke nicht erschossen hat.«
    »Wie bitte?«
    »Warst du es?«
    »Ich? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
    »Das trifft wohl weniger auf mich zu«, sagte Anna. »Sag mir einfach nur,

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