Der Captain ist 'ne Lady
1. KAPITEL
Cinco Gentry steckte sein Handy wieder ein und hoffte inständig, eben keinen katastrophalen Fehler begangen zu haben. Sein alter Freund und Geschäftspartner Kyle Sullivan aus dem nahe gelegenen San Angelo hatte ihn zu dieser unchristlichen Morgenstunde angerufen und ihn um einen Gefallen gebeten.
Es ging um einen neuen Klienten, der Schutz brauchte und Unterschlupf auf der Gentry-Ranch. Dieser Klient war Frosty, Kyles ehemaliger Kamerad bei der Air Force, der sich offenbar eine Menge Probleme eingehandelt hatte.
Sicherheit und Personenschutz aller Art waren jedenfalls Cincos Spezialität. Und er hoffte, dass das neue Projekt für seine Sicherheitsfirma besser laufen würde als sein Leben in letzter Zeit.
Am vergangenen Abend hatte er eine frustrierende Aussprache mit seinem Bruder und seiner Schwester gehabt. Deshalb stand er jetzt im ersten Morgenlicht wieder einmal vor den leeren Gräbern seiner Eltern und haderte mit den vier Generationen von Gentrys, die vor ihm auf der Ranch gelebt hatten.
Besonders bedrückend wirkten auf ihn diese beiden Grabsteine. Wie gern hätte er seinen Eltern noch einige Fragen gestellt – zum Beispiel, was damals in jener Unwetternacht wirklich mit ihnen geschehen war und was er jetzt mit seinen rebellischen Geschwistern machen sollte.
Die Granitgrabsteine für T.A. Gentry und seine Frau dienten seit zwölf Jahren nur dem Andenken der beiden und erinnerten ihn ständig daran, dass er niemals die Wahrheit erfahren würde.
Der Ausblick vom Graveyard Hill, dem Gräberhügel, war an diesem Morgen großartig. Auf der einen Seite verblasste allmählich der Vollmond und ließ die letzten Schneefelder bläulich schimmern. Auf der anderen Seite schob sich die Sonne langsam über einen Hügel. In ihrem Schein leuchtete der Schnee rot wie Feuer. Die Landschaft rings um Cinco strahlte in allen Farben des Regenbogens, doch er nahm es kaum wahr.
Seit dem Verschwinden seiner Eltern kümmerte er sich um die Ranch und um seine Geschwister. Trotzdem hätte er liebend gern jederzeit die Stellung als Familienoberhaupt an seinen Vater zurückgegeben. Sein Vater hatte ihn erzogen und ihm beigebracht, dass jeder im Leben eine Pflicht hatte – so gut zu sein, wie man es sich nur wünschen konnte. Doch sein Vater war vermutlich ertrunken, und daher hatte Cinco seine Träume aufgeben und nach Hause zurückkehren müssen.
Nun bestand für ihn die oberste Pflicht darin, den Rest der Familie zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass es seinen Geschwistern Cal und Abby gut ging. Dabei waren die beiden stur wie Maulesel, wenn er ihnen Vorhaltungen wegen ihres unbedachten Verhaltens machte. Wieso verstanden sie nicht, dass dies jetzt seine Welt war – Sicherheit. Darin war er wirklich gut geworden, und in der Internetbranche hatte er sogar Kyle übertrumpft.
Jetzt musste er nur noch seine jüngeren Geschwister davon überzeugen, dass er genau wusste, was für sie am sichersten war.
Eine Stunde später lief der Kaffee durch die Maschine. In der Küche war es warm, und das Geschirr stand in der Spüle. Allmählich fragte sich Cinco, ob er Kyle vielleicht genauere Anweisungen hätte geben sollen, wie er fahren musste. Schließlich war sein Partner seit etlichen Jahren nicht mehr auf der Ranch gewesen.
Er griff nach seiner Jacke, dem Hut und den Schlüsseln für einen der Geländewagen und verließ das Haus durch die Waschküche. Da es nur eine Zufahrtsstraße zum Hauptgebäude der Ranch gab, würde er Kyle mühelos finden, falls sein Freund sich doch nicht verfahren haben sollte.
Gerade als er die Veranda hinter dem Haus betrat, hörte er einen Motor. In einer Staubwolke tauchte ein teurer grüner Wagen auf, ein englisches Modell, lang gestreckt, tief liegend und schnittig. Das Auto passte in diese Gegend ungefähr so wie ein Cowboy auf einen Elefanten.
Die Ranch der Familie Gentry war so modern wie alle anderen im Umkreis, aber Cinco war klar, dass sie auf Leute aus der Großstadt hinterwäldlerisch und verschlafen wirkte, zum Beispiel auf Kyle und wahrscheinlich auch auf diesen Frosty.
Als der Wagen auf der anderen Seite des Vorplatzes hielt, versuchte Cinco, durch die Windschutzscheibe einen Blick auf Kyles alten Kameraden zu erhaschen. Durch die getönten Scheiben war der Mann, der Schutz brauchte, jedoch nicht zu sehen.
Der im Herbst in West Texas allgegenwärtige Staub kratzte Cinco im Hals, als er auf den Wagen zuging. Kyle stieg auf der Fahrerseite aus, beugte sich noch einmal
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