Maerchenerzaehler
antwortete der Antwortende, aber diesmal war es wohl die falsche Frage und die richtige Antwort. Über ihnen schrie die silbergraue Möwe, ihr Schrei klang schrill und warnend und zunächst begriffen sie ihn nicht. Sie liefen weiter auf ihren Schlittschuhen, auf die dunkle Masse des Landes zu. Und dann schrie die Möwe noch lauter und sie bremsten abrupt. Vor ihnen brach das Eis ab. Sie sahen jetzt, wie dick es war, einen halben Meter dick, doch es brach einfach ab. Zwischen dem Festland und der Kante floss ein breiter Strom, ein reißender Fluss aus Tauwasser, ein unüberwindliches Ungeheuer aus Wassermassen.
Sie schnallten die Schlittschuhe ab und standen stumm an der Eiskante. Die silbergraue Möwe landete vor ihnen, legte den Kopf schief und blinzelte mit ihren goldenen Augen. Die Pupillen in ihren Augen waren beinahe verschwunden, als wäre sie dabei, blind zu werden wie die weiße Katze. Vielleicht war der Wind in der Luft über dem Meer zu kalt gewesen. Die kleine Königin bückte sich, um der Möwe übers Gefieder zu streichen, doch es war wieder ein silbergrauer Hund, den sie streichelte. Er drückte sich an ihre Beine, als suchte er Schutz vor der Kälte, und dann bellte er laut und bleckte die Zähne. Er hatte scharfe Zähne, Reißzähne wie ein Wolf. Die kleine Königin folgte seinem Blick und auch das Rosenmädchen drehte sich um.
›Da kommt sie‹, flüsterte es. ›Da kommt die Juwelierin mit ihren blitzenden Werkzeugen. Wir müssen schwimmen.‹
Aber der Strom war zu reißend, die Wassermassen zu gewaltig.
›Wir werden schwimmen‹, sagte die kleine Königin. ›Aber wenn wir schwimmen, werden wir sterben. Und ich weiß noch immer nicht, wie der Tod ist. Wir sind so lange unterwegs gewesen und haben so viele Leute kennengelernt, und niemand, kein Einziger von ihnen, hat mir erklärt, was der Tod bedeutet.‹«
»Und?«, fragte Anna.
»Nichts und«, sagte Abel und drehte eine der Bierflaschen um, aus der ein letzter Tropfen auf den Tisch fiel.
»Das ist nicht das Ende«, sagte Anna. »Das Ende ist erst übermorgen. Bis dahin finden wir eine Möglichkeit, über den Strom zu kommen. Der Seelöwe kann doch schwimmen. Er kann hervorragend schwimmen. Komm.«
Sie nahm seinen Arm und zog ihn auf die Beine, wollte ihn weiterziehen, aus der Ecke, um den Tisch herum – und da fand er zum zweiten Mal seine Kraft wieder. Diesmal fand er sie wirklich. Er stieß sie von sich, sie taumelte und hielt sich am Tisch fest, sie sah, wie er ausholte, als wollte er sie schlagen. Sie duckte sich. Es kam kein Schlag. Er stand vor ihr, mit hängenden Armen, sank zurück auf die Bank und schloss die Augen.
»Geh weg, Anna«, sagte er noch einmal, zu leise, als dass sie es hätte hören können, sie sah die Worte auf seinen Lippen. »Geh jetzt weg. Weit weg. Und komm nie mehr wieder. Das Märchen geht nicht gut aus.«
Sie ging. Sie ließ ihn allein, allein mit der irren, tanzenden Masse, in deren Mitte man mehr allein sein konnte als irgendwo sonst.
»Mein Kind«, sagte Gitta, die sie im Vorraum der Mensa traf, »hast du ihn nicht gefunden?«
»Nein«, sagte Anna. »Ich werde ihn morgen finden. Morgen, wenn er wieder nüchtern ist und geschlafen hat.«
»Tu das«, sagte Gitta. Anna sah, dass Hennes hinter ihr stand.
»Tu das«, wiederholte er und strich sich mit dieser unerträglichen Geste das Haar aus dem Gesicht. Er hielt ein Glas in der Hand, und die Farbe der Flüssigkeit in dem Glas war schön, und das Glas warschön, und seine Hand war schlank und schön. Sieh nur, dachte sie, wie sie tanzen. Irre.
»Anna!«, sagte Hennes. »Warte! Diese Sache mit Bertil heute … das, was er aufgenommen hat … ich … es tut mir … wenn ich jetzt irgendetwas sage …«
»Dann kann es nur falsch sein«, sagte Anna. »Geh, Hennes. Nimm Gitta und geh mit ihr tanzen.«
In dieser Nacht träumte sie nicht von Flammen. Sie träumte von Ludwigsburg. Von den Kiefern im Schneesturm. Und sie wusste, wer ihr gefolgt war. Wer ihr Angst gemacht hatte.
»Ich bin eben schon einmal an dir vorbeigefahren«, hatte Bertil gesagt. »Ich musste nur erst einen Ort finden, um zu wenden …«
Und sie hatte ihn nicht gesehen, als er ihr entgegenfuhr, als er an ihr vorbeifuhr. Weil er nicht an ihr vorbeigefahren war. Im Traum sah sie die drei verschneiten Autos wieder vor sich, dort beim Restaurant hinter dem Strand, am Ende der schmalen Straße. Und plötzlich war sie sich sicher, dass eines davon ein alter Volvo gewesen war. Und
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