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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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aufgefallen … sie sah wieder hin. Es war die Tatsache, dass die Leiche auf dem Rücken lag. Als hätte jemand sie nicht verscharrt, sondern begraben. Und dann bemerkte sie etwas anderes: Neben der Leiche lag noch etwas, etwas, das vielleicht einmal auf der Brust des Körpers platziert gewesen war, zwei dünne Sperrholzlatten wie Stücke einer Mandarinenkiste, zusammengehalten mit einem einfachen Stück Stoff, der jetzt halb zerfasert war. Es sah aus, als hätte jemand diesen Stoffstreifen irgendwo abgerissen. War er einst geblümt gewesen? Sie kannte dieses Blümchenmuster, blau und weiß, irgendwo hatte sie es schon gesehen … der Stoff hielt die Latten zusammen zu einem Kreuz.
    Anna streckte die Hand danach aus und zog das Kreuz aus der Grube, ohne den Körper oder die Kleidung zu berühren. Und auf einmal war ihr nicht mehr kalt, sondern heiß, viel zu heiß, ihr Kreislauf spielte verrückt, der Wald drehte sich um sie. Jemand hatte etwas auf das Holz der Latten geschrieben, mit schwarzem Edding, man konnte es kaum noch lesen. Aber das war ja gelogen, natürlich konnte sie es lesen, die Kälte hatte auch die Schrift konserviert, ordentliche Blockbuchstaben, als wäre es jemandem auf abstruse Weise wichtig gewesen, dass sie gut lesbar waren.
    MICHELLE TANNATEK
    12. 4. 1973 – 14. 2. 2010
    Annas Kopf rechnete ungebeten wie eine Maschine: neunzehn. Sie war noch nicht ganz neunzehn gewesen, als Abel geboren wurde. Sie war sechsunddreißig Jahre alt geworden.
    Anna schloss die Augen und sah vor sich, halb verdeckt von Erde und Blättern, keine Leiche mehr liegen, sondern eine weiße Katze. Sie war blind und sie schlief. Sie schlief sehr, sehr tief. Eine der sich wiederholenden Antworten des Antwortenden fiel ihr ein: Unter den Buchen, wo im Frühjahr die Buschwindröschen wachsen. Irgendwann hatte der Fragende auch die richtige Frage gestellt, nur nicht zur richtigen Zeit: Wo ist Michelle?
    Sie war nie verreist gewesen.
    »Warum?«, flüsterte Anna. »Warum hast du das getan? Hast du das getan? Und warum … warum hast du es mir erzählt, in deinem Märchen? Wolltest du, dass ich sie finde? Wolltest du, dass alles endlich vorüber ist?«
    Sie öffnete die Augen und stand auf, merkte, dass ihr immer noch schwindelig war, taumelte einen Schritt zurück, krümmte sich zusammen und übergab sich. In ihrem Kopf fiel alles durcheinander, Gedanken, Worte, Sätze aus dem Märchen. Es hatte mit der Puppe angefangen, der Puppe, die sie unter dem Sofa im Kollegstufenzimmer gefunden hatte. Frau Margarete. Frau Margarete trug ein weißes Kleid mit blauen Blumen. Der Saum von Frau Margaretes Kleid war ausgefranst, als hätte jemand den eigentlichen Saum abgerissen. Wozu? Als Erinnerung? Als Gruß? Und hatte er hinterher versucht, Frau Margarete zu verlieren, um Micha nichts erklären zu müssen? Michelle konnte den Gruß nicht mehr sehen, nicht mehr begreifen. Sie schlief zu tief, um jemals wieder aufzuwachen.
    Was hatte der Antwortende noch gesagt? All diese unsinnigen Antworten … ein paar davon waren nicht unsinnig gewesen. Erinnere dich, Anna, erinnere dich, er hat dir die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt, ohne die Wahrheit zu sagen. Da war noch eine Antwort, die er mehrfach gegeben hatte. In der Kiste auf dem Badezimmerschrank. Die letzte Frage des Fragenden fiel ihr ein, auch sie gestellt ohne Zusammenhang:
    Wo ist die Waffe?
    Sie sah Abel wieder im Bad stehen, Pflaster suchend, die Pappkiste in der Hand, unverhältnismäßig erschrocken darüber, dass sie hereingekommen war.
    »Nein«, flüsterte sie. »Nein, das … das will ich nicht. Ich will nicht, dass das wahr ist. Ich … ich war mir so sicher …«
    Und dann dachte sie wieder an Michas Lehrerin. Die letzte Verfolgerin der kleinen Königin.
    Sie wählte Lindas Nummer, während sie durch den Wald zurückging, halb stolpernd, halb rennend.
    »Ja?«
    »Linda, ich bin es. Hast du die Nummer von Michas Lehrerin? Hat sie eine Nummer hinterlassen?«
    »Nein, ich …«
    »Linda, du musst sie herausfinden. Sofort. Es ist wichtig. Ruf sie an. Sag ihr, sie soll auf sich aufpassen. Nein. Sag ihr, sie soll sich nicht aus dem Haus rühren. Sag ihr …«
    »Anna, was ist los? Wo bist du? Wolltest du nicht zu Abel? Ist etwas passiert?«
    »Ja. Nein. Ich bin immer noch auf dem Weg dorthin. Ruf diese Lehrerin an, Linda. Jetzt gleich.«
    Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie das Fahrradschloss beinahe nicht aufbekam. Man konnte es ohnehin leicht knacken, hatte Abel

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