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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wem er auf diesem Sofa was getan hatte, es erstickte ihr Lachen, das zu denken, und gleichzeitig erweckte es in ihr den Wunsch, sich zu einer unendlich großen, starken Kreatur auszudehnen, die ihn für immer vor allem beschützen konnte. Nie wieder. Du musst dieses Sofa nie wieder mit jemandem teilen, der dir Geld dafür gibt. Du musst nie wieder …
    »Jetzt wein doch nicht mehr«, flüsterte er und wischte ihre Tränen ab, und dennoch fielen sie weiter, fielen auf die Folie der Kondompackung, auf unromantisch lachsfarbenes Plastik. Sie saß noch immer auf seinem Schoß. Sie hatte keine Ahnung, wie man mit einem Kondom umging. Er hatte. Natürlich.
    Aber dort endete sein Wissen.
    Da ließ sie ihre Hände nach unten wandern und führte ihn, und es war jetzt ganz leicht, Gleiten wie auf Kufen übers Eis, alles war auf einmal leicht, es gab keinen Schmerz, es gab einen gemeinsamen Rhythmus. Sie führte noch immer, umgekehrt wie beim Tanzen, sie führte seine Finger an die richtige Stelle und zeigte ihm, was er zu tun hatte. Und er ließ sie führen. Das hat für mich nichts mit Zärtlichkeit zu tun, hatte er gesagt, nur mit Gewalt … aber hier gab es keine Gewalt mehr. Er hatte etwas begriffen. Er konnte es. Er konnte zärtlich sein. Sie brauchte seine Finger nicht mehr zu führen, sie schloss die Augen, und es war ein wenig wie ein elektrischer Strom, der sie durchfloss. Die Tränen waren versiegt. Vor ihren geschlossenen Lidern sang die Farbe Grün, nicht Blau, sondern Grün, grün wie der Ozean unter dem Eis. Sie hatte nicht gewusst, dass Sex eine Farbe hatte. Die Farbe schlug Wellen, schäumte und wirbelte empor, und alles war richtig, alles war gut, und vielleicht, dachte Anna, überdeckte diese Farbe alles andere, das Nicht-Richtige, Nicht-Gute, alles, was geschehen war: die Angst, die an den Fliesen im Bad klebte, die davonlaufenden Schritte in der Bootshalle, Bertils Durchsage und ihren Inhalt, Abels verzweifelte Furcht, dass Micha das Gleiche passieren könnte wie ihm. Die Welle aus grüner Ozeanfarbe würde sich überschlagen, jetzt gleich, sie spürte es …
    »Anna«, sagte Abel.
    Sie öffnete die Augen und sah ihn an, eingefroren mitten in der Bewegung.
    »Wenn mir … wenn ich nicht mehr hier sein kann«, wisperte er, und Anna dachte an die kalten Mauern von Gerichtsgebäuden und Strafvollzugsanstalten und wollte nicht weiterdenken, nicht jetzt. »Wenn ich nicht mehr hier sein kann … was wird dann aus Micha? Sie versteht sich gut mit deiner Mutter …«
    »Meine Eltern würden sie adoptieren«, sagte Anna. »Auf der Stelle.«
    Er nickte und schloss die Augen und sie schloss die Augen ebenfalls wieder und die grüne Welle überspülte sie Sekunden später beide. Nicht genau gleichzeitig, genau gleichzeitig ist immer gelogen, aber die Wogen des Ozeans, in dem sie schwammen, lagen nahe genug beieinander, um sich von der einen zur anderen zuzuwinken.
    Sie blieben lange so sitzen, ganz nah beieinander, sie atmeten den gleichen Atem ein und aus, sie wärmten einander im letzten Rest des Winters. Es würde eine Lösung geben, dachte Anna wieder,einen Ausweg, wenn dies möglich gewesen war, war alles andere auch möglich.
    »Natürlich«, flüsterte Abel. »Es gibt einen Ausweg. Ich weiß ihn jetzt.«
    Und sie fragte sich, ob er durch ihre Haut fühlen konnte, was sie dachte.
    Ich bin vollkommen glücklich, dachte sie und hoffte, dass auch er diesen Gedanken spürte. In diesem Augenblick bin ich vollkommen glücklich, ist das nicht seltsam? Oder eigentlich ist es überhaupt nicht seltsam. Verweile doch, du bist so schön.
    Sekunden später hielt unten vor dem Haus ein Auto, sie hörten das Motorengeräusch, sie hörten Stimmen, die von Frau Ketow und die von mehreren Männern, eilige Stimmen. In den Stimmen lag etwas Scharfes, Gefährliches: die Kante des Eises am reißenden Strom.
    Sie lösten sich voneinander und gingen ans Fenster, noch immer nackt.
    »Scheiße«, sagte Abel leise. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell sind.«
    Vor dem Haus standen zwei Autos. Das eine gehörte Magnus. Das andere war ein Polizeiauto. Grün-weiß, dachte Anna, die Ozeanreiter. Alles in Abels Märchen ergab einen Sinn.
    Sie hatte sich noch nie so schnell angezogen. Es ging überhaupt alles zu schnell.
    Abel umarmte sie noch einmal, ganz kurz.
    »Es gibt einen Ausweg«, wiederholte er, und sie verstand nicht, verstand nichts – sie rannte ihm nach, auf den Flur hinaus, wo Micha verschlafen aus ihrem Zimmer

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