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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Erde.«
    »Natürlich«, sagte er. »Ich habe es dir gesagt. Die weiße Katze schläft.«
    Er spielte noch immer mit der Waffe.
    »Micha …«, begann Anna.
    »… schläft im Übrigen auch«, antwortete er. »Sie ist über ihrem Buch eingeschlafen. Dem Buch mit dem Hund.« Er lächelte, es war kein böses Lächeln, es war ein Lächeln, das sie immer noch mochte. Da waren Zeilen eines Liedes in ihrem Kopf, eines der Lieder von Lindas Schallplatten:
    It’s written in the scriptures,
    It’s written there in blood.
    I even heard the angels declare it from above,
    There ain’t no cure,
    There ain’t no cure,
    There ain’t no cure for love.
    All the rocket ships are climbing through the sky,
    The doctors working day and night
    But they never ever find that cure,
    That cure for love.
    »Erzähl es mir«, bat sie, »erzähl mir die ganze Geschichte. Wenn du mich erschießt, will ich wenigstens vorher die Wahrheit wissen.«
    »Bist du wahnsinnig?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie.
    »Glaubst du, dass ich dich erschieße?«
    »Ja. Ich habe all das eine lange Zeit nicht geglaubt … jetzt glaube ich es.«
    Er sah die Pistole an. »Hast du keine Angst?«
    »Doch«, sagte Anna. »Natürlich. Aber das nützt nichts.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »es nützt nichts, Angst zu haben. Die schlimmen Dinge geschehen immer trotzdem. Du hast recht.«
    Er kam einen Schritt ins Bad hinein, sie wollte zurückweichen, doch da war nichts, wohin sie zurückweichen konnte. Es gab einen einzigen Stuhl im Bad, neben der Dusche, einen Stuhl, über dem Handtücher und Kleider hingen. Er ließ sich auf diesen Stuhl fallen, die Waffe noch immer in Händen, den Blick noch immer daraufgerichtet.
    »Damals, als Lierski hier mit uns wohnte, war es genauso«, sagte er. »Ich war zehn, als er einzog, das war, bevor Micha geboren wurde. Ich wusste immer, dass er mich irgendwann allein erwischt. Ich hatte Angst, aber es hat nichts genützt, Angst zu haben. Michelle hat mir meine Angst nicht geglaubt. Sie hatte endlich einen Mann, der bleiben wollte … seltsam, es hat sich fast nichts in der Wohnung verändert seitdem. Das erste Mal war hier, im Bad. Genau hier. An manchen Tagen ist es mir unbegreiflich, dass das Bad danach einfach weiterexistieren konnte, als wäre nichts gewesen …«
    »Er hat …«
    »Natürlich. Du brauchst es nicht zu sagen. Es nützt auch nichts, Dinge zu sagen. Sie hat mir hinterher immer noch nicht geglaubt. Sie hat gesagt, ich lüge. Es hat gedauert, bis sie ihn rausgeschmissen hat. Als er ging, war ich zwölf.« Er sah auf, nur ganz kurz, und sah wieder weg. »Verstehst du das? Verstehst du, dass ich ihn erschossen habe? Es war kein Racheakt. Es war wegen Micha. Ich wolltenicht, dass ihr das Gleiche passiert. Er hatte, glaube ich, keine Präferenzen, was Jungen oder Mädchen anging. Es gab so viele, die davon wussten, alle haben geredet, frag mal nach im Admiral … aber niemand hatte einen Beweis, und niemand hat etwas getan. Und vielleicht wissen ein paar von denen dort, dass ich es war, der ihn erschossen hat, und haben den Mund gehalten. Man kennt sich hier draußen.«
    Sie lehnte sich an die Wand. Die Wand war noch kälter als alles andere. Die Wand war damals schon da gewesen, Fliesen, dachte sie, steril abwaschbar. Alles Elend der Welt in einem winzigen Bad im vierten Stock. Dafür also die Bootshalle.
    »Du hast etwas über das Zähnezusammenbeißen gesagt, zu Bertil …«
    »Ja. Ergibt es für dich Sinn? Es hat etwas mit der Hemmschwelle zu tun, denke ich. Wenn Lierski mich nicht erwischt hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Ja zu sagen … Irgendwann hat mich einer gefragt, in einer Disco. Das war eine ganze Zeit nach der Sache mit Lierski. Ich weiß gar nicht, wie alt ich war. Fünfzehn? Frag jetzt nicht, warum ich mit fünfzehn nachts in einer Disco war. Der Ausweis gehörte vermutlich nicht mir. Du glaubst das vielleicht nicht, aber ich war ein ganz hübscher Junge. Die blauen Augen … und blonde Locken. Da waren sie noch länger, das war vor der Drei-Millimeter-Zeit.« Er lachte. »Damals habe ich plötzlich begriffen, dass du Geld dafür kriegen kannst. Dass du nicht ohne Gegenwert zu leiden brauchst. Es war eine Offenbarung. Was passiert war, war sowieso passiert, und ich hatte es überlebt, ich hatte zwei Jahre in dieser Wohnung mit Lierski überlebt, und ich wusste, dass ich auch alles andere überleben würde. Ich habe überlebt, siehst du? Später waren es keine Discos

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