Maerchenerzaehler
Königin legte ihre Hand an seinen Hals, damit er wusste, dass sie da war und dass er es geschafft hatte, sie an Land zu bringen. Da hob er den Kopf.
Und auf der anderen Seite des Stroms preschten die Ozeanreiter heran. An der Kante des Eises zügelten sie ihre Pferde, die sich aufbäumten und schrill wieherten. Vielleicht stimmte es nicht, vielleicht war es nur ein Gerücht, dass die Ozeanreiter übers Wasserreiten konnten? Oder vielleicht war die Strömung hier auch für sie zu stark?
Die Juwelierin zeigte auf die kleine Gruppe auf dem Festland.
›Seht ihr den Seelöwen?‹, hörten sie sie fragen. ›Er hat sie hinübergebracht, der silbergraue Seelöwe mit den blauen Augen.‹
Das Rosenmädchen sah in die Augen des Seelöwen, und da waren sie nicht mehr golden, sondern zu blauem Eis gefroren. In diesem Moment jedoch hob einer der Ozeanreiter sein Gewehr, denn sie trugen allesamt Jagdgewehre, und ein Schuss löste sich daraus und hallte übers reißende Wasser zum Festland. Der Schall trug eine Kugel mit sich und diese Kugel traf den Seelöwen zwischen den Augen.
›Nein!‹, schrie die kleine Königin und sprang auf, und ehe der nächste Schütze eine tödliche Kugel schicken konnte, stiegen ihr die Tränen in die Augen und flossen, nein, stürzten in den Tauwasserstrom, und er erwärmte sich so sehr, dass innerhalb von Sekunden der ganze weite Ozean sich ebenfalls erwärmte. Denn wer ein Herz aus Diamant hat, dessen Tränen sind warm und mächtig wie das Sonnenlicht. Das Eis schmolz und die Schar der Ozeanreiter versank gemeinsam mit der Juwelierin im Meer. Die Strömung nahm sie mit, nahm auch den Fragenden und den Antwortenden mit und die schlafende weiße Katze und den Leuchtturmwärter, der noch irgendwo auf dem Eis gelegen hatte.
Die kleine Königin und das Rosenmädchen sahen ihnen allen lange hinterher.
Schließlich wandten sie sich ab und begannen, vom Meer fortzuwandern, ins Landesinnere. Das Rosenmädchen trug den Körper des Seelöwen auf ihren Armen. Und da war er kein Seelöwe mehr.
Er war ein Mensch geworden.
›Er hat mich gerettet‹, sagte die kleine Königin.
›Uns‹, sagte das Rosenmädchen.
›Aber er ist selbst dabei verloren gegangen‹, sagte die kleine Königin. ›Er wird nie wissen, dass er uns gerettet hat. Und ich werde weinen. Ich weine jetzt nicht mehr, denn meine Tränen sind versiegt, doch sie werden nachwachsen, und ich werde ein ganzes Leben lang weinen. Ich weiß noch immer nicht, was der Tod ist, aber mein Seelöwe weiß es jetzt …‹
›Weine nicht‹, bat das Rosenmädchen. ›Weine nicht ein ganzes Leben lang, kleine Königin. Er weiß, dass er uns gerettet hat. Er bleibt bei uns. Als Erinnerung. Siehst du das Haus dort auf den Klippen?‹
Die kleine Königin schluckte die nachwachsenden Tränen herunter. ›Ja‹, sagte sie, ›ich sehe es. Es ist schön. Da wachsen Rosen im Garten und jemand füttert die Rotkehlchen.‹
›Und hörst du die Musik, die aus den Fenstern dringt?‹, fragte das Rosenmädchen. ›Klavier und Flöte. Du könntest dort wohnen. Du könntest in diesem Haus wohnen und Musik machen, statt zu weinen.‹
Da nickte die kleine Königin.«
»Und dies ist das Ende des Märchens?«, fragte Micha.
»Dies ist das Ende des Märchens.«
»Nein«, sagte Micha und sprang auf. »Nein, das ist es nicht. Die kleine Königin hat nämlich noch etwas entschieden. Sie wollte kein Herz aus Diamant mehr haben. Sie hat es eingetauscht, gegen ein normales Herz. Das Herz aus Diamant hat sie dem Seelöwen auf sein Grab gelegt.«
»Das ist eine gute Idee.«
»Ja … ist es denn dann doch irgendwie gut ausgegangen?«
»Irgendwie ja. Es war der größte Wunsch des Seelöwen, dass die kleine Königin das Festland erreicht. Und sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ich glaube, er war am Ende glücklich.«
Anna stand ebenfalls auf, sie hatten auf Klappstühlen im Garten gesessen und die Rotkehlchen beobachtet, aber als Micha aufgesprungen war, waren alle Rotkehlchen davongeflogen.
»Ich höre das Klavier«, sagte Micha. »Linda spielt. Ich glaube, ich gehe hinein und helfe ihr. Ich muss jetzt schnell an etwas anderes denken, sonst …«
»Geh ruhig und hilf Linda mit dem Klavier«, sagte Anna. »Ich bleibe noch ein wenig hier draußen.«
Sie schloss die Augen und sah den Treppenabsatz im obersten Stock wieder vor sich.
Sie konnte nichts dagegen tun.
Sie sah Abel wieder dort oben stehen. Er lächelte. Sie bemerkte erst jetzt, dass er die Pistole
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