Märchenerzähler
geriet das Fahrzeug vor ihnen ins Schleudern und kam zum Stehen, und Bertil fluchte wieder, diesmal lauter. Anna schloss die Augen, fühlte einen Ruck und öffnete sie wieder. Der Volvo hielt Zentimeter von der Stoßstange des anderen Wagens entfernt.
Es dauerte, bis sich beide Wagen wieder in Bewegung setzten, noch langsamer jetzt, im Kriechtempo.
»Jemand ist mir gefolgt«, sagte Anna. »Da draußen, in Ludwigsburg. Vielleicht der, der die beiden Männer umgebracht hat. Lierski und Marinke. Du weißt schon, wovon ich rede.«
»Weiß ich das?«, fragte Bertil. Irgendwo vor ihnen blinkten orange die Lichter eines Räumfahrzeugs oder Abschleppwagens. Der Wind und der Schnee kamen jetzt von links, die linke Seite der Straße war völlig zugeweht, sie ließ sich nur einspurig befahren. Bertil blieb stehen, um einen anderen Wagen durchzulassen.
»Hast du keine Angst?«, fragte Anna.
Er schüttelte den Kopf. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist … was? Dass wir liegen bleiben? Dass wir einen Unfall haben?« Er sah sie an. »Das Schlimmste ist immer der Tod. Von mir aus. Dann sterbe ich mit dir zusammen in diesem Auto. Das hätte etwas … Wunderbares.«
»Bertil, bitte … guck auf die Straße.« Der Hund winselte hinterAnna. Er hatte sich flach auf den Boden gelegt, halb unter dem Vorderreifen von Annas Rad verborgen.
»Die Straße!« Bertil lachte. Sein Lachen hatte etwas Verzweifeltes. »Die Straße gibt es ja fast nicht mehr. Ich liebe dich.«
»Ich weiß«, sagte Anna. »Aber jetzt guck auf die verdammte Straße !«
»Du weißt? Du weißt gar nichts«, murmelte Bertil, aber er sah zurück auf die Fahrbahn. »Ich bin der, der immer da ist, der immer da sein wird, ich hole dich raus, wenn es schneit und friert und wenn du allein bist, aber ich stehe immer in der zweiten Reihe. Ich bin der Freak mit der zu starken Brille, der zu Große, zu Schlaksige, zu Ungeschickte, der niemals cool sein wird, und die Lehrer sagen, der bringt es zu etwas, der ist intelligent, wenn ich das schon höre, intelligent! Ich wollte immer etwas anderes sein. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich aussehen wie Tannatek, das kannst du mir glauben. Ich kann es mir nicht aussuchen.«
»Bertil …«
»Leute wie du suchen sich Leute wie ihn, und später wundern sie sich, was geschieht … Mach, was du willst, Anna Leemann. Mach, was du willst, aber was immer du tust, ich werde da sein, im Notfall. Ich hasse es, das Rettungsnetz zu sein, nur das Rettungsnetz. Aber wenn ich nichts anderes sein kann, bin ich eben das.«
Da war eine weitere Schneewehe, er bremste zu scharf, der Hund jaulte und der Volvo verlor die Bodenhaftung. Als Anna die Augen diesmal wieder öffnete, stand der Wagen quer auf der Straße. »Scheiße!«, sagte Bertil zum soundsovielten Mal. »Die Räder drehen schon wieder durch. Wir müssen etwas unter die Vorderreifen legen. Ich habe eine Decke hinten im Auto …«
Er sprang hinaus und Anna blieb alleine zurück im winzigen,windstillen Raum des Autos. Sie drehte sich zu dem silbergrauen Hund um.
»Er ist verrückt«, flüsterte sie. »Dein Herrchen ist verrückt, weißt du das? Ich müsste ihn lieben, dafür, dass er mich aufgesammelt hat, dass er auf mich aufpassen will, dafür, dass er mich liebt … aber man kann sich nicht zwingen, zu lieben. Und es ist wahr, alles, was er über sich sagt. Die Welt ist so ungerecht. Wir …«
Bertil riss die Fahrertür auf, und ein eisiger Windstoß blies eine Handvoll Schneeflocken ins Auto.
»Rutsch rüber!«, rief Bertil gegen das Heulen des Sturms an. »Auf den Fahrersitz! Ich schiebe, du fährst!«
»Ich kann nicht Auto fahren!«, rief Anna zurück, aber sie rutschte hinüber. Er beugte sich halb ins Auto, legte ihre rechte Hand auf die Kupplung. »Fuß aufs linke Pedal, ersten Gang rein, Gas ist rechts!«, schrie er. »Bist du noch nie gefahren?«
»Doch, mit Magnus …«
»Wenn wir länger warten, schneien wir noch mehr ein! Los jetzt, ich schiebe!«
Er knallte die Tür wieder zu, und Anna ließ den Motor aufheulen, doch die Reifen griffen noch immer nicht, und draußen wirbelte der Schnee die ganze Welt durcheinander. »Abel«, flüsterte Anna.
»Abel, ich will hier nicht mit Bertil erfrieren! Wo bist du? Wo bist du? «
Und plötzlich wusste sie, was sie wollte. Ganz genau. Sie wollte zu ihm. Wenn sie heil aus diesem Schneesturm herauskäme, würde sie zu ihm gehen, fahren, sich wehen lassen, kriechen … egal. Sie würde verzeihen. Sie hatte
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