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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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sorgen, dass sie das glauben. Es ergibt alles einen Sinn. Aber wer …«
    Wer wusste, dass sie nach Ludwigsburg hinausgefahren war? Eigentlich nur der Knaake. Ihr wurde mit einem Schlag noch ein wenig kälter, obgleich das nicht möglich war. Was, dachte sie, wenn ich mit der verkehrten Person über alles gesprochen habe? Die Insel des Mörders ist leer, der Mörder ist vielleicht unter uns … Wie war das eigentlich damals mit dieser Brille des Leuchtturmwärters gewesen, die er angeblich auf dem Schiff vergessen hatte? Die kleine Königin war zurückgegangen, um sie zu suchen, und sie war dem roten Jäger direkt in die Arme gelaufen. Und warum hatte der Leuchtturmwärter im Sturm gesagt, sie sollten die Segel herunternehmen? Natürlich, es klang vernünftig, und dennoch hatte es das Schiff der kleinen Königin langsamer werden lassen, hatte das schwarze Schiff aufholen lassen. Aber war das nicht alles nur ein Märchen?
    Sie sah die Gestalt jetzt ganz deutlich am Rand ihres Blickfeldes, sie glaubte, im Sturm etwas zu hören, ein Japsen, ein Atmen, weniger menschlich als tierisch, sie wirbelte herum – es war keine Gestalt. Es war ein abgebrochener Baum. Und dann erkannte sie den lang gezogenen Umriss des Cafés. Kurze Zeit später versuchte sie vergeblich, das Rad aufzuschließen. Das Schloss war vereist oder klemmte es nur? Sie schaffte es, das Rad ließ sich schieben, aber es ließ sich nicht fahren. Der Sturm war zu stark. Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie wäre gerettet, aber das Rad nützte ihr absolut nichts. Auf dem Parkplatz des Cafés standen drei Autos, alle drei halb eingeschneit, sie erinnerte sich nicht, ob die Autos zuvor schon dort gestanden hatten, vielleicht ja, vielleicht waren ihre Besitzer auf einer so irren Wanderung wie sie selbst, aber vielleicht hattensie die Autos auch vor Wochen hier stehen lassen. Sie schob ihr Rad gegen den Sturm an, die Straße entlang. Es war eine endlose schmale Straße, irgendwo würde sie auf die Wolgaster stoßen, doch bis dahin waren es mehrere Kilometer. Kilometer von weißem, eisigem Nichts, Kilometer, auf denen niemand ihr helfen konnte. Ein kilometerlanges Grab. Sie senkte den Kopf und klammerte sich am Fahrradlenker fest. Konnte sie sich notfalls mit dem Rad verteidigen? Es gegen ihren Angreifer fallen lassen, rennen? Unsinn, sagte sie sich, wohin wollte sie rennen? Sie ließ das Rad trotzdem nicht los.
    Sie drehte sich nicht mehr um. Sie wusste, dass ihr Verfolger da war, es nützte nichts, sich umzudrehen. Er würde den Zeitpunkt selbst wählen, zu dem er sie einholte. Vielleicht gefiel es ihm, sie zu jagen, ihr Angst zu machen, vielleicht gefiel es ihm, wenn sie sich umdrehte, panisch die Landschaft nach ihm absuchend, vielleicht lachte er im Geheimen über sie. Sie würde ihm den Gefallen nicht mehr tun. Sie stapfte stur durch den Schnee geradeaus, am Ende ihrer Kräfte. Sie versuchte, ihren Tagtraum von dem warmen Sommertag zurückzurufen. Wenn dieser Schneesturm das Letzte war, was sie sah, wollte sie wenigstens an etwas Schönes denken. Sie wollte an den Sand denken und an die Burg mit den Muscheln, an das glitzernde Wasser …
    Es begann jetzt, dunkel zu werden, sie bewegte sich kaum noch vorwärts, die Schneewehen an der Straße waren zu hoch, aber sie weigerte sich, das Rad loszulassen – da näherte sich das Motorengeräusch eines Autos hinter ihr. Sie blieb stehen. Das war er. Das musste er sein. Er oder sie. Die Person, die sie verfolgt hatte. Als das Auto neben ihr hielt, merkte sie, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. Es war ein Wunder, dass sie die Tränen spürte, hatte sie nichtgedacht, sie könnte schon längst nichts mehr spüren auf ihren erfrorenen Wangen?
    Sie ließ das Rad in den Schnee fallen. Sie ließ sich in den Schnee fallen. Jemand sprang aus dem Auto, kam auf sie zu, packte sie und zog sie hoch.
    »Mein Gott, bist du verrückt?«, sagte Bertil. »Was tust du hier?«
    Zehn Minuten später saß sie auf dem Beifahrersitz des alten Volvos und heulte noch immer. Sie konnte einfach nicht damit aufhören. Bertil hatte ihr Rad in den Kofferraum gepackt, wo es sich den Platz mit dem silbergrauen Jagdhund teilte. Das Auto hatte sich im Schnee festgefahren, und Bertil rangierte eine Weile, vorwärts, rückwärts, vorwärts, rückwärts, bis es sich schließlich wieder in Bewegung setzte. Die Heizung blies lauwarme Luft in den Innenraum.
    »Es wird gleich noch wärmer«, sagte Bertil, und Anna fragte sich, ob er die Heizung

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