Märchenerzähler
gelegen. Auf einmal schien der Winter dies aufholen zu wollen. Die Schneewehen wuchsen so rasch, dass man zusehen konnte. Der Schnee drang oben in Annas Stiefel und in die Ritze zwischen Mütze und Schal. Sie fluchte lautlos, sie stemmte sich mit gesenktem Kopf gegen den Wind, sie spürte jetzt auch ihre Füße nicht mehr.
Der Weg zurück zu dem alten Café war endlos geworden, ein Spaziergang, der sich zu einer Wanderung ausdehnte, es war, als würde sie gegen eine Strömung schwimmen. Aber waren das überhaupt Schneeflocken, die der Wind ihr ins Gesicht peitschte? Waren es nicht winzige Stücke zerrissener Briefumschläge?
Sie hörte wieder Abels Worte: Es kann nicht verziehen werden … Und da begriff sie, dass sie hier im Schneesturm auch einen Kampf mit sich selbst kämpfte: den Kampf darum, ob sie verzeihen konnte. Ob das absolut Unmögliche möglich war. Die Flocken, die die Böen ihr entgegenschleuderten, waren getränkt mit dem Blut einer vergangenen Nacht, die eisige Kälte, die ihr den Atem nahm, fühltesich an wie eine Hand vor ihrem Mund. Konnte sie all dies hinter sich lassen? Etwas finden, das jenseits lag? Die Nacht und ihren Schmerz vergessen? Sie kämpfte ihren Kampf gegen sich selbst ganz allein. Selbst Gittas raue Stimme hatte sie verlassen.
Und dann sah sie, dass jemand ihr folgte. Da war jemand, eine dunkle Gestalt zwischen den dunklen Stämmen der Bäume, sie sah sie nur aus dem Augenwinkel im wirbelnden Schnee. Sie drehte sich um, mühsam im Sturm das Gleichgewicht haltend. Nein. Da war niemand. Sie musste sich die Gestalt eingebildet haben, es war irgendetwas anderes gewesen, ein sich biegender Baum, ein Busch, ein Schatten. Sie kämpfte sich weiter voran, Schritt für Schritt, und der Schatten kehrte zurück an den Rand ihres Blickfelds, ein beweglicher Schatten, geduckt wie sie – wieder drehte sie sich um, und wieder war niemand da.
Sie wusste, dass die Gestalt zurückkehren würde, wenn sie sich wieder umdrehte.
Auf einmal hatte sie Angst. Panische Angst.
Angst vor dem Sturm, der zu stark für sie war, Angst vor dem Schemen hinter ihr, Angst vor der Kälte und der Dunkelheit, die unweigerlich kommen würde, Angst, alleine hier draußen zu bleiben. Entsprang der Schemen nur dieser Angst, war er ein Gebilde ihrer Fantasie? Aber wenn nicht? Sie blieb stehen, hielt sich an einem Kiefernstamm fest, keuchend, frierend, zitternd. Sie konnte das Metall beinahe im Nacken fühlen, das Metall einer Waffe, die sich gegen ihren Hals drückte, obwohl da nur ihr nasser Schal war. Ich habe Angst, hatte sie zum Knaake gesagt, Angst, dass noch jemand tot unter dem Schnee gefunden wird.
Aber nie, keinen Augenblick lang, hatte sie daran gedacht, dass dieser Jemand sie selbst sein konnte. Sie zwang sich, weiterzugehen, aber sie kam nicht voran, sie sah sich zu oft um, vergeblich; der, der ihr folgte, verschmolz mit der Umgebung, wenn sie sich umdrehte. Sie dachte an Linda und ihre unsinnige Angst um ihre einzige Tochter.
Wie sinnvoll ihr Lindas Angst auf einmal erschien!
Die schlimmsten Dinge, bei deren Erwähnung man abwinkt und lacht, geschahen alle irgendwann wirklich. Mach dir keine Sorgen, ich komme schon rechtzeitig nach Hause, ich werde schon nicht überfallen und vergewaltigt werden. Mach dir keine Sorgen, ich lasse mich da draußen schon nicht umbringen. Mach dir keine Sorgen. Keine Sorgen.
Sie spürte, dass die Person, die ihr folgte, näher kam, sie spürte es genau. Und etwas in ihr sehnte sich danach, sich der Länge nach in den Schnee fallen zu lassen und einfach auf diese Person zu warten. Ihr Atem ging stoßweise, und es fühlte sich an, als atmete sie die Schneeflocken und den eisigen Wind bei jedem Atemzug mit ein und aus.
»Abel«, flüsterte sie. »Wenn du das bist, beeil dich. Komm her. Bring das hier zu Ende. Ich kann nicht mehr.«
Aber auf einmal wusste sie mit hundertprozentiger Gewissheit, dass es nicht Abel war. Es war jemand anders. Sie wusste nicht, woher sie es wusste, sie wusste es einfach. Es würde ihr, dachte sie, nichts mehr nützen. Und sie merkte, wie sehr sie sich nach Abels Anwesenheit sehnte. Wenn er da gewesen wäre, hätte sie sich nicht so sehr gefürchtet, nicht einmal vor dem Tod.
»Ich werde sterben«, wisperte sie, beinahe lautlos, während sie weiterstolperte, »ich werde sterben, und ich weiß, was dann geschieht. Dann werden sie ihm meinen Tod zuschreiben. Sie werden glauben, er wäre es gewesen, der mich umgebracht hat. Jemandwird dafür
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