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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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vorher nicht angehabt hatte, aber sie vergaß den Gedanken gleich wieder. Sie hatte damit zu tun, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
    »Ich habe dich gesucht«, sagte Bertil. »Ich musste erst eine Stelle zum Wenden finden …«
    »Eine Stelle … zum Wenden?«
    »Natürlich. Ich bin vor fünf Minuten schon einmal an dir vorbeigefahren, da kam ich von der großen Straße. Aber ich konnte erst hinten beim Café drehen. Jetzt sag nicht, du hast nicht gemerkt, dass eben ein Auto an dir vorbeigefahren ist. Ich habe aufgeblendet, damit du mich siehst und weißt, dass ich da bin.«
    »Ich hatte den Kopf gesenkt«, sagte Anna. »Ich habe dich nicht gesehen. Du hast … du hast mich gesucht? Woher wusstest du …?«
    Da hielt er den Wagen an, obwohl er Gefahr lief, sich wieder im Schnee festzufahren, griff hinüber und nahm sie in die Arme, und sie sträubte sich nicht. Er roch ganz anders als Abel. Er roch nach Schnee und Pfefferminzbonbons und Hund.
    Er war warm und lebendig. Er war da. Er hatte sie gesucht.
    »Gitta hat gesehen, dass du hier rausgefahren bist«, sagte er. »Sie hat es mir gesagt. Sie hat gesagt, wenn du in diese Richtung fährst, fährst du höchstwahrscheinlich nach Ludwigsburg, sie kennt dich … Ich habe eine ganze Weile gewartet. Aber dann dachte ich, es wäre eine gute Idee, nachzusehen, wo du steckst.«
    »Ja«, sagte sie zwischen den Schluchzern, die sie noch immer nicht unter Kontrolle bekam, »ja, es war eine gute Idee. Bertil, ich … ich hatte das Gefühl, dass …« Sie brach ab.
    »Du bist eiskalt«, sagte er und stellte die Heizung noch höher. »Warum bist du da rausgefahren? Hast du keinen Wetterbericht gehört? Oder hast du einfach den Verstand verloren? Ich weiß nicht mal, ob wir mit dem Auto heil zurückkommen. Die Straßen sind ein einziges Chaos.«
    »Ja«, sagte sie wieder, »ja.«
    Sie hielt sich an ihm fest, an seiner lebendigen Wärme, sie wollte nirgendwohin fahren, sie wollte einfach hier im Auto sitzen und sich an jemandem festhalten. Egal an wem.
    Irgendwann ließ er sie los und fuhr wieder an, diesmal ging es. Hinten im Kofferraum, auf den umgeklappten Rücksitzen, hechelte der silbergraue Hund. Anna drehte sich um. Er hatte goldene Augen, wirklich. Wie seltsam.
    Die Scheibenwischer rasten. Bertil fuhr im zweiten Gang die Straße entlang, ganz am Rand, den Schneewehen ausweichend. An den Bäumen und den Leitpfosten türmten sie sich auf wie Sanddünen. An manchen Stellen musste er mit dem Auto Anlauf nehmen, dann streckte er einen Arm zu Anna hinüber, wie um sie festzuhalten, falls etwas passierte. Er fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Und zwischen den Flüchen fragte er:
    »Was ist eigentlich passiert? Mit Tannatek und dir?«
    Sie schluckte die letzten Schluchzer hinunter. »Nichts.«
    »Natürlich ist etwas passiert. Und das ist der Grund, weswegen du hier rausgefahren bist, trotz der Unwetterwarnung, oder? Hat er dir etwas getan?«
    Sie schluckte. Ich möchte Dir etwas erklären. Aber ich kann es nicht. Später, später vielleicht. Die Worte, die ich dazu finden muss, sind scharfkantig und verletzend …
    »Nein«, sagte sie.
    »Wenn er dir etwas getan hat«, sagte Bertil und manövrierte den Volvo schlingernd um eine weitere Schneewehe, »bringe ich ihn um. Ich bringe ihn um.«
    Anna hielt sich am Türgriff fest und merkte, dass sie nicht angeschnallt war.
    »Pass lieber auf die Straße auf. Sonst bringst du uns um.«
    Aber im Stillen dachte sie, dass sie diesen Satz schon einmal fast genauso gehört hatte. Abel hatte das über Micha gesagt und über Lierski. Wenn er Micha anfasst, bringe ich ihn um .
    Die Räder rutschten und drehten einen Moment lang durch, aber Bertil fing den Wagen wieder auf.
    »Schneeketten«, sagte er, »was man jetzt bräuchte, sind Schneeketten. Verdammt, ich sehe nichts!«
    Die Scheibenwischer rasten noch immer. Der Wind trieb die Schneeflocken stetig auf die Scheibe zu, Flocken, angestrahlt von den Frontlichtern wie irre Tänzer. Es hatte etwas Hypnotisches, dasHin und Her der Scheibenwischer und das stetige Auftauchen neuer Flocken, die größer wurden, näher kamen und verschwanden.
    »Wie kannst du bei diesem Wetter fahren?«
    »Ich kann nicht«, sagte Bertil. »Ich muss. Du wärst da draußen erfroren. Da ist die Straße.«
    Die Straße war die Wolgaster, und die Abzweigung war so glatt, dass das Auto wieder schlitterte. Hier gab es die Lichter von anderen Autos, und erst fühlte Anna sich sicherer, doch dann

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