Märchenerzähler
Dunkelheit.
Irgendwann sagte Abel noch etwas, ein sehr kleines, sehr leises Wort, dicht an ihrem Ohr, sie hörte es kaum, spürte nur den Lufthauch der Silben wie einen warmen Wind aus einer Jahreszeit jenseits des Winters. Danke.
Sie wanderten gemeinsam zur Brücke zurück, er schob das Rad. Sie sagte nichts über Bertil, nichts über ihren wahnsinnigen Ausflug nach Ludwigsburg, nichts über ihr Gespräch mit dem Knaake, nichts über das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie sagte, nach einer langen Zeit des Schweigens: »Lass uns Schlittschuh fahren. Morgen, nach der Schule. Mit Micha.«
Und dann stiegen sie in den Bus, samt den Rädern, weil es noch immer unmöglich war, zu fahren. Der Busfahrer sagte nichts, obwohl es verboten war, Räder im Bus mitzunehmen. Sie standen da und hielten ihre Räder fest und schwiegen und Anna lehnte sich ganz leicht an Abel. Er stieg nach einer Haltestelle aus.
Sie sang die ganze Busfahrt über, lautlos. Vergeben, dachte sie,war wie ein weiches dunkelblaues Tuch, und wenn es einem gelang, sich selbst zu vergeben, war das Tuch durchwirkt mit silbernen Fäden. Es gab keinen Schmerz mehr in ihr, nirgendwo, das weiche Tuch hatte alles zugedeckt, wie der Schnee und doch ganz anders.
Ein Tuch, was? Ein verdammtes blaues Tuch. Sonst geht’s dir gut, ja? Du bist also wirklich zu ihm zurückgekehrt, nach all dem. Soll ich dir was sagen, mein Kind? Du hast sie nicht mehr alle.
»Mein Gott«, sagte Linda, als Anna durch die Haustür kam, gerade pünktlich zum Abendessen. »Du bist völlig durchnässt. Was ist passiert?«
»Alles«, antwortete Anna und schüttelte sich wie ein Hund. »Das Schlimmste und das Beste. Ich muss unter eine heiße Dusche. Und ich muss noch Querflöte üben. Linda … kann ich dich etwas fragen? Etwas Wichtiges?«
»Ja«, sagte Linda und atmete tief ein. »Alles.«
»Gut«, sagte Anna. »Sind meine alten Kinderschlittschuhe noch im Keller?«
14
Kein Heiliger
Das Eis war glatt und weit, es lag unter dem Schnee verborgen wie ein geheimer Gedanke.
Nur ganz vorne hatten die Wellen die Schollen übereinandergetürmt, genau wie drüben, auf der anderen Seite, in Ludwigsburg, der geheime Gedanke war hier zu Splittern zerbrochen, und seine Teile hatten sich ineinander festgefressen: ein unlösbarer Wirrwarr, ein Rätsel. Sie waren zu dritt darübergestiegen, um das glatte Eis zu erreichen, aber es war Anna, als stünde sie noch immer zwischen den Schollen, im unerklärlich vielschichtigen Chaos …
»Anna? Anna!«, sagte Micha und zog sie am Ärmel. »Träumst du?«
»Ja«, antwortete Anna, »ich träume davon, dass ich eines Tages herausfinde, wie alles zusammenhängt.«
»Aber können wir jetzt losfahren? Du hast doch die Schlittschuhe dabei? Für mich?«
Sie nickte und kniete sich hin, um ihren Rucksack zu öffnen. Abel stand draußen bei der eingefrorenen orangefarbenen Nichtschwimmerboje, einem Relikt des Sommers, und sah zum Horizont. Vielleicht musste er einen Moment alleine sein.
Anna dachte an die Schule, während sie Micha half, auf dem Eis zwei Paar Socken und ihre alten Schlittschuhe anzuziehen. Siedachte an die Gesichter der anderen. An Bertils Gesicht, als er ins Kollegstufenzimmer gekommen war und sie zusammen auf der Heizung in der Ecke gesessen hatten, Abel und sie, schweigend und zu zweit. Er hatte genickt und »Natürlich«, gesagt, »Natürlich«, und dann hatte er kehrtgemacht und war gegangen. Aber in der Tür hatte er sich noch einmal umgedreht.
»Pass bloß gut auf dich auf, Anna Leemann«, hatte er gesagt. »Denk an den Schneesturm und an den Schatten da draußen im Wald. Und glaub nicht alles.«
Und Abel hatte sie angesehen, fragend, doch sie hatte den Kopf geschüttelt. Sie würde es ihm später erzählen. Vielleicht.
Seltsam war nur, dass Gitta etwas Ähnliches gesagt hatte, nachdem Abel schon zu irgendeinem Kurs verschwunden war. »Schön, dass du wieder glücklich bist, mein Kind«, hatte sie gesagt. »Bertil hat erzählt, er hätte dich gestern aus dem Schneesturm gepflückt?«
»Er hat mich nur gefunden, weil du ihm erzählt hast, wo ich langgefahren bin. Hat er gesagt.«
Gitta hatte genickt. »Pass auf dich auf, Anna. Und glaub nicht alles.«
Sie hatten an diesem Tag kein Deutsch gehabt, aber sie hatte den Knaake auf dem Flur getroffen.
»Ich bin an der Sache dran«, hatte er im Vorbeigehen leise gesagt und gezwinkert. »Aber ich weiß noch nicht, was ich glaube. Man sollte nicht alles glauben.«
Hatten sie denn alle
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