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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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dass ich keinen mehr habe, und was ist ein Mensch ohne Schatten?« Er sah Anna an. »Bewahr meinen Schatten für mich auf. Sieh zu, dass niemand ihn stiehlt. Vielleicht muss ich heute Abend wirklich noch weg. Ich weiß es nicht.«
    Wartete er auf einen Anruf? Sie fragte nicht. Er war kein Antwortender. Er war alles andere. Katzenfellverkäufer. Märchenerzähler. Unbekannter, noch immer.
    »Du kannst im Gästezimmer schlafen«, sagte sie. »Ihr beide, wir haben zwei Gästebetten.« Und, leiser: »Der Schlüssel steckt nachts innen in der Haustür. Du kannst ihn mitnehmen. Du bist kein Gefangener. Es ist keine Falle. Nur ein kaputter Trockner.«
    Sie saßen beim Abendessen wie eine große Familie. Das Licht der Lampe war warm und die Küche roch nach Kartoffelauflauf. Eine Weile erzählte Micha mit vollem Mund vom Keksebacken und davon, dass sie jetzt schon beinahe Klavier spielen konnte.
    Und Linda hatte so ein Lächeln um die Mundwinkel. Und Abel saß nicht mehr so auf dem Sprung. Einmal drückte Anna ganz kurz unter dem Tisch Abels Hand. Er drückte zurück.
    »Abel macht auch manchmal Kartoffelauflauf«, sagte Micha schließlich und legte die Gabel auf ihren leeren Teller. »Er kann nämlich alles kochen, Pfannkuchen und Nudeln und Kuchen. Sogar Torte, für Geburtstage. Mit Kerzen. Demnächst gibt es wieder eine Torte, und vielleicht wird sie mit Erdbeeren, weil schon fast Frühling ist. Jedenfalls mit tiefgekühlten Erdbeeren. Abel kann das machen.«
    »Dieser Bruder, den du da hast, scheint ja wirklich ein Heiliger zu sein«, meinte Magnus.
    »Was soll das?«, zischte Anna. »Wozu der Sarkasmus?«
    »Was ist Sackasmus?«, fragte Micha.
    »Sarkasmus ist, wenn jemand das Gegenteil von dem meint, was er sagt«, sagte Abel leise. »Kein Heiliger also. Das Gegenteil. Das ist richtig. Und das Gegenteil von einem Heiligen gehört nicht hierher, nehme ich an …«
    Er schob seinen Stuhl zurück, die Hände an der Tischkante, und Anna legte ihre Hand auf seine.
    »Bleib sitzen«, sagte sie. »Bitte. Magnus macht nur dumme Bemerkungen. Weißt du, Micha, er kann gut Schnee schippen und Vögel füttern und Leute verarzten, mein Vater, aber er kann nicht mal ein Spiegelei kochen, und insofern ist jeder, der Kartoffelauflauf machen kann, sicherlich ein Heiliger. Ehrlich gesagt glaube ich, Magnus kann ein Spiegelei nicht mal von einer Schneeschippe unterscheiden .«
    Micha lachte, und Magnus lachte auch, und Linda bemühte sich, mitzulachen, aber Abel lachte nicht. »Ich habe die Betten im Gästezimmer schon bezogen«, sagte Linda.
    »Sollen wir was mit abwaschen?«, fragte Micha. »Ich kann prima abwaschen …«
    Linda schüttelte den Kopf. »Unsere Spülmaschine kann auch prima abwaschen. Schlaf schön.«
    Und Anna blickte Abel und Micha nach, wie sie die Treppe hinaufgingen, Hand in Hand wie ein rührseliges Abziehbild. Als wäre noch immer alles gut und alles schön. Aber es war nicht mehr gut, sie konnte es spüren. Und später fragte sie sich, ob Abel in diesem Moment entschieden hatte, dass er nachts noch wegmusste. Ob es gar nichts mit einem Anruf zu tun hatte. Ob er in dieser Nacht das Haus nicht verlassen hätte, wenn Magnus nicht eine dumme Bemerkung gemacht hätte. Und ob dann manche Dinge anders gekommen wären.
    Sie lag lange wach und las. Einmal klingelte das Handy auf ihrem Schreibtisch, aber sie ging nicht dran. Gitta, dachte sie. Wer sonst? Sie hatten »Gute Nacht« zueinander gesagt, Abel und sie, »Gute Nacht« und nicht mehr, ein wenig wie Fremde. Sie hatte ihn noch mit Micha reden hören, aber nun war es still nebenan. Und schließlich tappte sie leise hinüber, ganz leise, und öffnete die Tür. Ein Streifen Licht von den Straßenlaternen fiel herein. Eines der Betten war leer. Micha lag zusammengekringelt auf dem anderen Bett in Abels Armen und schlief. Und Abel? Schlief er auch? Oder tat er nur so, als schliefe er? Die Sehnsucht, ebenfalls zu ihnen unter die Decke zu schlüpfen, brannte in Annas Kehle wie Tränen. Aber es war kein Platz mehr im Gästebett.
    Sie blieb einen Moment stehen und sah Abel an, sein Gesicht war ganz nah und doch unendlich weit weg. Der Schatten, den das Gästebett und die Gestalten an die Wand warfen, war ein verzerrtes, seltsames Gebilde. Es sah aus wie etwas Geducktes, Lauerndes. Ein Wolf. Sie schloss die Tür lautlos und kroch zurück in ihr eigenes Bett.
    Er blieb einen Moment auf der Fußgängerbrücke stehen und sah auf das Eis hinaus. Es fiel jetzt kein Schnee mehr,

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