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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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an. Der Raum drehte sich noch immer um sie. »Der Leuchtturmwärter«, sagte sie. »Dem Leuchtturmwärter ist etwas passiert.«
    Der Raum war weiß wie der Schnee draußen, viel zu weiß. Das Piepen und Quäken der Maschinen gab ihm etwas Unwirkliches. Micha tastete nach Annas Hand. An der anderen Hand hielt sie Abel. Sie hatten sie nicht mitnehmen wollen, aber sie hatte darauf bestanden.
    »Ich bin doch mit ihm auf dem Eis!«, hatte sie gesagt. »Mit dem Leuchtturmwärter! In der Geschichte!«
    Jetzt, als sie ihn in dem weißen Schneebett liegen sah, schüttelte Micha verwundert den Kopf. »Er hat gar keine Schlittschuhe an«, sagte sie. »Wir sind doch Schlittschuh gefahren.«
    Die blaffende Ärztin ließ sie allein. Sie hatte mit anderen Patienten zu tun, mit anderen Maschinen, mit anderen Arten zu sterben und zu überleben und dann doch zu sterben. Es roch penetrant nach Desinfektionsmittel und Plastik.
    Sie fanden drei Stühle, die sie heranzogen, und setzten sich neben das Bett, in dem der Knaake lag. Über den Monitor am Kopfende des Bettes lief die grüne Linie seines Herzschlags. Das Gesichtauf den Kissen war beinahe so weiß wie die Kissen selbst, die Augen geschlossen. Der Seemannsbart, der ihn zum Leuchtturmwärter gemacht hatte, wirkte auf seltsame Art vergilbt. Sie saßen eine lange Zeit da und schwiegen.
    »Er hat Cohen gehört«, sagte Anna schließlich. »Wie Michelle. Wusstest du das?«
    »Ja«, sagte Abel. »Und ich weiß, dass Michelle irgendwann was mit einem Lehrer hatte. Lange her, hat sie damals gesagt. Und dass er älter war als sie, ein ganzes Stück.«
    »Er hat gesagt, er hätte sie nicht gekannt.«
    Abel nickte. »Sagen kann man vieles. Und vielleicht erinnert er sich nicht.« Er beugte sich vor und berührte sachte die leblose Hand mit dem Infusionsschlauch. »Ich wollte ihn fragen. Geradeheraus. Ich hätte es tun sollen. Jetzt …«
    »Frag ihn, wenn er aufwacht.«
    Abel nickte. Aber in seinen Augen taute das Eis, Anna sah das Wasser darin, und sie wusste, dass er dasselbe dachte wie sie: Er wird vielleicht nicht wieder aufwachen.
    Die Ärztin hatte nur die Schultern gezuckt. »Was wollt ihr hören?«, hatte sie gesagt. »Prozentzahlen? Chancen? Es ist verdammt kalt da im Wasser. Verdammt kalt.«
    »Die Geschichte«, flüsterte Anna. »Erzähl die Geschichte weiter. Es ist wichtig. Der Dreizehnte ist schon am nächsten Mittwoch und bis dahin müssen wir das Festland erreichen. Ich nehme an, sie schliefen alle schlecht in dieser Nacht, denn sie schliefen auf dem Eis, mit einem Verräter in ihrer Mitte …«
    »Sie schliefen schlecht in dieser Nacht«, wiederholte Abel, »denn sie schliefen auf dem Eis, mit einem Verräter in ihrer Mitte. Ein Verräter, dachte das Rosenmädchen, und ein Mörder – und war es ein und dieselbe Person? Oder war alles ganz anders? Einmal, nachts, glaubte das Rosenmädchen, einen Hund winseln zu hören, ganz nahe.
    Aber am Morgen war der silbergraue Hund nirgends zu sehen. Auch der Leuchtturmwärter fehlte. Und es taute. Es gab jetzt Risse und tiefe Spalten im Eis, Löcher, in denen man das Wasser sah wie dunkle, lauernde Augen.
    ›Oh nein!‹, flüsterte die kleine Königin. ›Sie werden doch nicht nachts in ein solches Loch gestürzt sein?‹
    In diesem Moment hörte sie den Schrei eines Vogels und kurz darauf landete eine große graue Raubmöwe neben ihr auf dem Eis. Dort begann sie, mit ihrem Schnabel auf das Eis einzuhacken. Nein, dachte die kleine Königin, sie schrieb.
    ›Ich habe ihn gefunden‹, las die kleine Königin laut. ›Den Leuchtturmwärter. Er muss nachts allein fortgegangen sein. Kommt mit. Beeilt euch.‹
    Die Möwe legte den Kopf schief und nickte, und erst, als sie sich wieder in die Luft erhob, fiel der kleinen Königin auf, dass ihre Augen golden gewesen waren. Sie folgten ihr über das Eis, bis zu einem Loch, in dem man das dunkle Wasser sah. In dem Loch schwamm der Körper des Leuchtturmwärters. Das Rosenmädchen half der kleinen Königin, ihn aufs Eis hinaufzuziehen. Doch er rührte sich nicht. Er hatte eine Hand zur Faust geballt und aus seiner Faust hing das Ende eines roten Fadens.
    ›Er war es!‹, flüsterte die kleine Königin. ›Er hat der Juwelierin den Weg gezeigt!‹
    Sie blickte auf und sah die dunkle Gestalt, die an der Spitze der nächsten Schneewehe stand. Aus dem Mantel der Gestalt ragten die Spitzen von glänzendem Werkzeug.
    Die kleine Königin sah zurück zum Leuchtturmwärter. Eine Träne fiel auf seine

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