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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Schmerz zu ertragen. Aber er ließ sie nicht los.
    »Im Winter blühen dort keine Buschwindröschen«, sagte er. »Micha hat Angst vor der Dunkelheit, durch die dieser Pfad führt. Lass uns zurückgehen und den anderen nehmen.« Er hatte recht, Micha stand noch immer an der Gabelung und sah zu ihnen hinüber, sie ging keinen Schritt weiter.
    Als sie wieder bei ihr waren, löste Abel seinen Griff um Annas Arm und fasste Micha an der Hand. Ihre Augen waren groß und erschrocken.
    »Ich dachte schon, Anna läuft dort hinein«, flüsterte sie. »Das darfst du nicht, weißt du, Anna? Dort zwischen den Haselbüschen liegen umgestürzte Bäume, die sind hohl innen und darin wohnen die Unsichtbaren. Sie haben scharfe Zähne, glühende Zähne wie heiße Eisen. Sie können beißen.«
    Anna folgte ihr und Abel auf dem anderen Pfad, der zurück zur Straße führte, und erst auf der Straße verließ die Angst Michas Augen.
    »Hier ist es besser«, sagte sie. »Ich hätte den Pfad gar nicht entlangrennen sollen … ich hatte es vergessen. Abel haben die Unsichtbaren schon einmal gebissen, weißt du … es hat richtig geblutet, sein ganzer Ärmel war voller Blut …«
    »Micha erzählt auch manchmal Märchen«, sagte Abel und strich ihr über das blassblonde, schneeblonde Haar. »Aber ich, ich erzähle heute nicht von den Unsichtbaren im Wald. Ich erzähle von der Insel der Bettlerin.«
    »Der Insel der Bettlerin?«, fragte Micha.
    »Ja«, sagte Abel. Er hakte auf der einen Seite Anna ein und nahm auf der anderen Micha an der Hand, und so wanderten sie zurück durch den Elisenhain, und Anna versuchte, die Unsichtbaren zu vergessen. Sie wollte nicht über ihre scharfen Zähne nachdenken, die einem die Arme blutig bissen, nein, nicht jetzt. Sie wollte nur hier mit Abel und Micha zusammen durch den Wald gehen und eine Geschichte hören und sich eine kleine Weile keine Sorge machen.
    »Die Insel der Bettlerin war die nächste Insel, die das grüne Schiff anlief«, sagte Abel. »Das einzige Gebäude darauf war ein winziges, ärmliches, graues Haus. Der Wind pfiff durch die Öffnungen in der Mauer, und man hörte ihn weit, weit hinaus übers Meer: ›Gebt mir eine milde Gabe‹, pfiff der Wind, ›dies Haus ist alles, was ich habe. Sind Scheiben nicht noch Möbel drin, dies ist das Haus der Bettlerin.‹
    Neben dem Haus stand ein kahler Baum, und der Wind pfiff durch seine blattlosen Äste und sang: ›Gebt mir eine milde Gabe, der Baum ist alles, was ich habe. Kein Apfel dran, kein Saft darin, dies ist der Baum der Bettlerin.‹ Und auch im Kamin pfiff der Wind: ›Gebt mir eine milde Gabe, mein Herd ist alles, was ich habe. Ist Kohle nicht noch Feuer drin, dies ist der Herd der Bettlerin …‹
    ›Lasst uns anlegen!‹, rief die kleine Königin. ›Wir müssen den Baum zum Leben erwecken und den kalten Ofen wärmen! Vielleicht kann mein Herz aus Diamant der Bettlerin helfen! Zu etwas muss es doch gut sein, dieses Herz aus Diamant!‹
    So legten sie an der Insel der Bettlerin an, und die Bettlerin kam aus ihrem Haus gelaufen und konnte gar nicht fassen, dass jemand sie besuchte. Sie war in Lumpen gekleidet, dünn und grau und zerzaust, und sie sah uralt aus, obwohl sie vielleicht noch jung war. ›Oh!‹, rief sie. ›Schon immer wollte ich eine Königin auf meiner Insel begrüßen! Aber ich kann dir gar nichts anbieten, kleine Königin, denn ich besitze nichts … Seht ihr die Insel dort hinten amHorizont? Das ist die Insel des reichen Mannes. An klaren Tagen kann man seinen Palast sehen. Seit Jahren schreibe ich Briefe an ihn, die stecke ich in die Flaschen, die hier angespült werden, und werfe sie ins Meer. In jedem Brief habe ich ihn um Hilfe gebeten und ich habe nie eine Antwort erhalten …‹
    Die kleine Königin legte ihre Hand auf den toten Baum und bat ihr diamantenes Herz, ihn wieder zum Leben zu erwecken, doch er blieb tot. Sie legte ihre Hand auf den Sims des kalten Kamins, doch er blieb kalt.
    ›Es liegt an mir‹, sagte die Bettlerin traurig. ›Was immer ich anfasse, wird grau und kalt … ich habe einfach kein Glück mit den Dingen.‹
    ›Komm mit an Bord‹, sagte die kleine Königin. ›Wir bringen dich hinüber zur Insel des reichen Mannes.‹
    Die Bettlerin seufzte schwer, denn es ist nicht leicht, sein Zuhause zu verlassen, auch wenn es aus einem kalten Kamin und einem toten Baum besteht.
    Schließlich ließ sie sich aber doch vom Rosenmädchen an Bord helfen und das grüne Schiff legte wieder ab. Das

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