Märchenmord
fremden Stadt, in der Männer mit Messern herumlaufen. In einem Film ist das o. k., aber nicht hier. Nicht in meinem Leben . Ihr Herz schlug laut zum Zerspringen. Sie konnte sich nich t rühren. Stattdessen zitterte sie am ganzen Körper, als hätte si e Schüttelfrost . Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, schoss es ihr durch de n Kopf, dann flüsterte sie: »Ich! Ich habe Angst! Scheißangst! «
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Fünf
W ie lang war die Ewigkeit ? Eine Minute, fünf, eine Stunde ? Gina wusste nicht, wie lange sie bereits an die Wand gelehn t dasaß und vor sich hin starrte . Eine Ewigkeit lang . Eine unendliche Ewigkeit, in der sie nichts hörte als die Standuhr im Flur. Jedes Ticken war ein Körnchen Sand, das verrann . Aus dieser Ewigkeit wurde sie durch einen lauten Klang geschreckt . Gina zuckte zusammen . Als ob ihr Körper mit jedem neuen Schlag der Standuhr bebte . Eins, zwei, drei, vier… zehn Schläge ! Sie hob den Kopf . War der Albtraum vorbei ? Zitternd richtete sie sich auf und ging zurück zum Fenster. Si e warf einen Blick auf das Haus gegenüber, wo die Wohnung i m vierten Stock jetzt in völligem Dunkel lag. Als sei der Film z u Ende . Hatte sie sich alles nur eingebildet ?
Ja, lieber Gott, mach, dass das alles nicht wahr gewesen ist. Eine kurze Ohnmacht, eine Halluzination, eine Fata Morgana, meinetwegen eine Erscheinung. Mach, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich nicht das Böse gesehen habe. Nichts rührte sich gegenüber. Alles schien normal. Und vielleicht war auch nichts passiert. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Sie sagte immer, dass Gina überspannt sei und Horrorszenen entwarf, obwohl alles ganz harmlos war. Gina beruhigte sich. Es war vorbei! Vorsichtig richtete sie sich auf, ohne jedoch den Blick von dem großen Fenster abzuwenden, das wie ein riesiger schwarzer Rahmen vor der hell erleuchteten Straße wirkte, auf der nun allmählich das Pariser Nachtleben begann. Mopeds knatterten. Ein paar Jugendliche liefen laut lachend am Haus vorbei. Wieder dieses Gefühl, dass sie nur einen Film gesehen hatte. Alles nur Fake. Nur Kulisse. Und vielleicht war es ja tatsächlich so. Vielleicht war gegenüber nur ein Fernseher angeschaltet gewesen? Ja, möglicherweise war nur ein Film auf einem riesigen Flachbildschirm gelaufen, der sich im Fenster gespiegelt hatte. Gina war wirklich bereits überzeugt, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, als sie plötzlich hinter dem Fenster einen hellen Schimmer wahrnahm. Ein rotes Licht, das durch den Raum wanderte. Ein unheimliches Flackern wie von einer Kerze, wie von vielen Kerzen. Etwas flammte auf. Etwas Unheimliches. Wieder presste sie das Gesicht ans Fenster und versuchte zu erkennen, was dort drüben vor sich ging. Im ersten Moment glaubte Gina, das Licht in der Wohnung ginge erneut an, bis sie erkannte, was es wirklich war. Feuer!
Etwas in der Wohnung gegenüber loderte auf wie eine Fackel , und vor Schrecken gelähmt, beobachtete Gina, wie die Flammen auf die Wandteppiche übergriffen . Der Albtraum ging weiter . Ja, Gina musste träumen . Doch als sie die Fingernägel in die schweißnasse Handfläch e grub, tat es weh. Sie war also hellwach! Kein Albtraum, kei n Fernsehthriller, kein Killerspiel . Sie hatte tatsächlich einen Mord gesehen . Der schwarze Mann hatte vor ihren Augen ein Mädchen umgebracht. Wo war er jetzt? Noch in der Wohnung? Stand er irgendwo im Dunkel und beobachtete sie? Er wusste, dass sie alles gesehen hatte. Sie war die einzige Zeugin . Lauf weg, schrei um Hilfe ! Aber Gina lief nicht weg. Sie schrie auch nicht um Hilfe . Sie saß einfach nur da ! Sie musste etwas unternehmen ! Hilfe holen ! Ich muss Mama anrufen . Gina bückte sich. Das Handy musste hier irgendwo liegen. E s war ihr aus der Hand gefallen. Im Dunkeln stieß sie mit de m rechten Knie hart gegen den Tisch und schrie vor Schmerz auf . Wo war das verdammte Ding ? Für einen Moment empfand sie blanke Panik . Dann die Erinnerung an einen altmodischen schwarzen Apparat auf der Kommode im Flur. Natürlich gab es einen Festnetzanschluss. Im Dunkeln kroch sie in den Flur. Ihre Knie schmerzten, überall stieß sie an Möbel. Ihr Körper musste bereits vo n blauen Flecken übersät sein. Für einen Moment spielte sie mi t dem Gedanken, das Licht anzuschalten, doch dann überfiel si e wieder die Angst. Dieser Blick des Mannes. Wie er sie angestarr t hatte. Sie würde es nie vergessen .
Regungslos hatte er am Fenster gestanden, als
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