Märchenmord
XVI., schaltete den Fernseher an und gleich darauf wieder aus. Französisch, französisch, französisch. Seit dem Tod ihrer Großmutter hatte sie sich geweigert, mit ihrer Mutter Französisch zu sprechen. Als ihre Mutter jeglichen Kontakt zu ihrem Großvater abgebrochen hatte. Ratlos stand sie im Raum und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Mein Gott war sie müde, aber um nichts in der Welt würde sie jetzt ins Bett gehen. Nicht solange sie allein in der Wohnung war. Von der Straße drang erneutes Hupen nach oben und jemand rief etwas auf Französisch. Es klang wie das nächtliche Jaulen verliebter Katzen. Sechs Wochen würde sie Tom nicht sehen können. Sechs Wochen! Das bedeutete das Tor zur Ewigkeit, wenn man verliebt war. Und Gina war verliebt. Sie war total verknallt. In den absolut coolsten Jungen der Schule. Egal, was Marie sagte. Gina holte das Aufladegerät aus ihrer Tasche, steckte es in das Handy und kehrte in den Salon zurück. Dort schob sie den Stecker in die Steckdose und nahm anschließend auf dem breiten Fensterbrett Platz, zog die Beine an und drückte ihr Gesicht an die Scheibe.
Stadt der Liebe?
City of love? Ville d’amour?
War ihre Mutter etwa auf der Suche nach einem neuen Mann? Wer war dieser Philippe? War die Liebe so einfach? Man ließ sich scheiden und fand jemand anderen? Wie ihr Vater diese Vicky, die behängt wie ein künstlicher Weihnachtsbaum war und dünn wie die magersüchtige Victoria Beckham. Dass ihre Mutter Tom erwähnt hatte, war auch nur wieder ein Zeichen dafür, dass Diskretion für sie ein Fremdwort war. Gina beobachtete, wie die Wolken über den Himmel zogen und die Dämmerung sich endgültig über die Straße legte. Ungeduldig griff sie zum Handy und prüfte, ob sie eine SMS bekommen hatte. Nichts. Warum meldete Tom sich nicht? Da war dieser eine Moment gewesen. Magic hatte sie Marie erklärt. In der vorletzten Schulwoche beim Besuch in der Sternwarte. Sie kam nach ihm ans Fernrohr. Er hatte durchgeschaut, sich ihr zugewandt und dann gelächelt: »Der dritte von links. Den habe ich nach dir benannt.« Gina seufzte vor Sehnsucht. Mann, Gina hatte gedacht, ihr Herz bleibt stehen. Und im Bus hatte er nach ihrer Telefonnummer gefragt. Unten auf der Straße führte eine unglaublich dicke Frau einen unglaublich dicken Hund spazieren. Missmutig trotteten beide den Bürgersteig entlang. Hier und da brannte in den gegenüberliegenden Häusern Licht. Sie konnte ungeniert einen Blick in jede Wohnung werfen. Im zweiten Stock stand ein Mann in Boxershorts im Badezimmer vor dem Spiegel und prüfte offenbar die Anzahl seiner Pickel. Dann sprühte er sich reichlich Deo unter die Achseln . Lackaffe! Gina richtete das Handy auf ihn und ging eine Sekunde später ein Stockwerk höher, wo eine Frau in eine m blau-weiß karierten Bademantel Unmengen von Geschir r spülte . Noch höher, genau in der Wohnung gegenüber, im vierte n Stock, war alles dunkel. Aber Gina glaubte, einen Schatten z u sehen . In der Wohnung darüber lief Ice Age II im Fernsehen, vor de m zwei Mädchen in Schlafanzügen sich vor Lachen kugelten .
»Den Menschen in Paris fehlt es am Nötigsten. Die meisten haben nur mehr ihre Unterwäsche am Leib. Die UNO berät derzei t über Hilfslieferungen von Kleidung«, murmelte Gina . Sie wollte das Handy gerade wieder ausschalten, als etwas ihr e Aufmerksamkeit fesselte . Stopp ! Im vierten Stock tat sich was . Ein Mädchen erschien am Fenster und schaute hinunter auf di e Straße. Für einen Moment starrte Gina sie an. In alter Gewohnheit versuchte sie, Worte für ihren Film zu finden .
»Es ist Sonntagabend, der 12. Juli. Halb zehn . Leichter Nieselregen . Am gegenüberliegenden Fenster steht ein schmales Mädche n und starrt traurig auf die regennasse Straße. Ihre schwarze n Haare glänzen wie das Gefieder eines Raben. Wie ein Vorhan g fallen sie über ihre Schultern. Sie trägt ein hellblaues Kleid mi t weißer Stickerei . Woran denkt sie ? Wartet sie auf ihren Geliebten? «
Quatsch keine Opern ! Geliebter , wie das klang ! Gina hob die Hand, um dem Mädchen zuzuwinken, doch sofor t
wandte es den Kopf zur Seite, als hätte Gina es erschreckt. Dann verschwand es im Dunkel der Wohnung. Zicke!, dachte Gina und ließ den Blick weiter neugierig über die Straße schweifen. Er blieb am Schuhputzjungen hängen, der nun vor dem Gemüseladen in seinem Rollstuhl saß, las und offensichtlich auf Kundschaft wartete. Wie war sein Name? Ach ja, Noah. Und dann sprang er
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