Mafiatochter
alles in Ordnung. Ich merkte aber trotzdem immer, wenn ihn etwas belastete, dann wurde er ganz still und starrte abwesend ins Leere.
Heute, da ich weiß, was er durchmachte, kann ich bestimmte Ereignisse rückblickend beinahe auf den Tag genau festmachen, etwa, als sein bester Freund Joe »Stymie« d’Angelo in einem Restaurant erschossen wurde, das mein Vater und er zusammen gekauft hatten. An jenem Abend traf ich ihn in Gedanken versunken in der Küche an.
»Vermisst du Stymie?«, fragte ich.
»Ich werde Stymie immer vermissen«, sagte er und räusperte sich. Es war das einzige Mal, dass ich ihn so mitgenommen erlebte.
Mein Vater ist ein sehr gefährlicher Mann. Er kann jemanden töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Er blickt nicht auf andere Menschen herab. Aber wenn er das Gefühl hat, dass ihn jemand übervorteilt oder ihn in die Enge treibt, muss man sich in Acht nehmen. Ich wusste es damals nicht, aber an jenem Abend plante er einen Mord. Er wollte sich rächen und überlegte, wie er Stymies Mörder hinrichten könnte, ein Mitglied der Gangsterfamilie Colombo, der eine Angestellte des Restaurants belästigt hatte. Wenn ich so zurückdenke, erinnere ich mich an so manchen Abend, an dem ich meinen Vater nach Mitternacht noch in der Küche sitzend antraf.
»Danke euch, dass ihr so brav wart«, lobte ich die Kinder, als wir an jenem Abend zum Hotel zurückfuhren. Vor dem Abendessen gingen wir alle noch eine Runde im Pool schwimmen. »Was denkt ihr über den Besuch?«, fragte ich, als sie am tiefen Ende des Beckens herumtobten.
»Tante Karen, kann ich dich was fragen?«, sagte Nicholas. »Hat Opa mal jemanden umgebracht?«
Oh mein Gott. Wir hatten noch einen Tag vor uns, und ich wollte nicht, dass die Kinder Angst vor ihrem Großvater hatten. Anlügen wollte ich sie aber auch nicht.
»Ja, das hat er«, sagte ich nüchtern. »Das gehört dazu, wenn man bei der Mafia ist.«
Nicholas bohrte weiter. »Was ist die Mafia?«
Ich versuchte, es ihm zu erklären, so gut es ging. »Was ich als Kind wusste, war, dass es eine Gruppe italienischer Männer war, die nach Amerika gekommen waren. Sie hatten Schwierigkeiten, Arbeit zu finden und so weiter, also schlossen sie sich zusammen und bildeten eine Geheimorganisation, damit sie füreinander sorgen konnten, ganz ähnlich wie eine Familie. Dazu gehörten vermutlich auch Diebstahl und Raub.«
»Warum haben sie dann Menschen getötet?«
Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. »Warum fragst du nicht Papa Bull, wenn wir ihn morgen besuchen?«
»Ich will nicht, dass er wütend auf mich wird.«
An jenem Abend dachte ich lange über Nicholas und seine Fragen nach. Er erinnerte mich an mich selbst, als ich in seinem Alter war. Er war aus ganz anderen Gründen als meine Tochter an der Geschichte interessiert. Er versuchte sie zu begreifen, wie ich einst auch.
»Na, was haben die Kinder gesagt?«, flüsterte mir mein Vater zu, als ich ihn am Morgen darauf zur Begrüßung umarmte.
»Es war ein netter Besuch für sie«, sagte ich lächelnd.
Mit einem Seitenblick auf meinen Neffen sagte mein Vater: »Du glaubst also, dein Opa ist verrückt?«
»Nein, du bist in Ordnung«, sagte Nicholas und schüttelte ihm die Hand.
»Papa, Nick möchte dir ein paar Fragen stellen.«
Nicholas verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein«, murmelte er.
»Was? Was ist denn, Nick?«
»Nichts.«
»Papa, er will wissen, was ein Gangster ist. Und die Mafia.« Ich forschte im Gesicht meines Vaters nach einer Reaktion, bemerkte jedoch nichts. Ich nahm meinen Neffen beim Arm und führte ihn zu einem der Plastikstühle, die an der Wand standen.
»Weißt du, Nick«, begann mein Vater, »es gibt bestimmte Dinge, auf die ich vielleicht keine Antwort geben kann, aber ich werde mein Bestes versuchen, damit du alles verstehst.«
Es war nicht zu fassen. Es war dasselbe, was er rund siebenundzwanzig Jahre zuvor in der Küche unseres Hauses auf Staten Island zu mir gesagt hatte. In kindgerechten Worten erklärte mein Vater, was die Mafia war und was sie tat. »Die Mafia wurde vor langer Zeit in Italien gegründet. Es war eine Gruppe von Männern, die sich zu einer Bruderschaft zusammenschlossen. Sie schützten ihre Dörfer und ihre Familien. Diese neue Bruderschaft gründete sich auf Vertrauen und Loyalität. Sie taten, was zu ihrem und dem Schutze ihrer Familien nötig war. Diese Bruderschaft nannten sie › Cosa Nostra ‹ ; das ist Italienisch und bedeutet › unsere Sache ‹
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