Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magical Mystery

Magical Mystery

Titel: Magical Mystery Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
Vom Netzwerk:
das war der Knesebeckstraßen-Katalog, den ich nie gesehen hatte, den hatte Wiesenberg damals zur Vernissage fertig haben wollen und ich kam direkt vorher in die Klapse, so sah’s aus, und durch diesen Anblick wurde ich ziemlich abgelenkt von dem Gespräch mit Werner, er quakte noch einige Zeit was aus dem Knochen und ich immer so »jaja«, während ich in die Knie ging und den Kopf verdrehte und mir diese Rücken anguckte, »Karl Schmidt – Mechanik und Statik, Galerie Wiesenberg«, nicht zu fassen, so hatten wir das damals wirklich genannt, Mechanik und Statik, das kam mir jetzt ein bisschen albern vor, zu technisch und zu arbeitsmäßig, eigentlich wollte man ja gar nicht arbeiten, man wollte ja Kunst machen, und über die Typen mit ihrem Arbeitsbegriff hatten wir immer gelacht, wir wollten spielen und nicht arbeiten, wenn wir hätten arbeiten wollen, wären wir ja keine Künstler geworden, so hatten wir das damals gesehen, aber in der Knesebeckstraße hatten sie immer noch das Lied von der Kunst als Arbeit gesungen, selbst Ende der achtziger Jahre noch, wahrscheinlich bis zum heutigen Tage! Ich zog einen der Kataloge heraus und sah mein Bild vorne drauf, im Anzug mit Acetylenschneidbrenner mit Flamme an und vor einem Stahlobjekt posierend, sinnlos in die Kamera grinsend, irgendwie großartig, aber auch großartig dämlich.
    »Werner«, sagte ich ohne nachzudenken ins Telefon, »ich hab jetzt keine Zeit für dich. Ich ruf später wieder an.«
    »Moment mal«, sagte Werner, »warte mal …« Ich drückte ihn weg.
    Dann betrachtete ich in Ruhe das Bild. Ich war gut drauf gewesen damals. Nicht der Hellste, aber gut drauf. Ich sah aus wie einer, den nichts erschüttern kann, dabei kam ich nur wenige Wochen nach dem Foto in die Klapse, wie passte das zusammen?
    Ich konnte mich von dem Bild nicht losreißen, es war schwarz-weiß, so wie alles damals, irgendwie hatte die Welt vor dem Mauerfall in meiner Erinnerung keine Farben, wir hatten in einem Schwarz-Weiß-Film gelebt, wir waren nicht durch Straßen, sondern durch Kulissen gelaufen und wir hatten auch nicht einfach gelebt, wir hatten Leben gespielt, und egal ob wir müde, wach, verkatert, fröhlich, verliebt, traurig, deprimiert gewesen waren, das war alles Teil einer größeren Sache gewesen, noch die blödeste Arbeit, das langweiligste Besäufnis, das mühsamste Geldverdienen, die hilfloseste Kunst, die hässlichste Wohnung, der kälteste Winter, die quälendste Krankheit waren etwas Besonderes und kostbar und Teil eines Großen Ganzen gewesen, eines Spiels, eines Films, und wir darin unsterblich, und so sah ich auf dem Bild auch aus, unsterblich wie einer, der in Drachenblut gebadet hatte und dessen eine verwundbare Stelle niemand kannte, nicht einmal er selbst, und während ich darüber nachdachte und über mich und die anderen staunte, weil wir so großartig gewesen waren, und da also blöd herumstand in einer Kölner Kunstbuchhandlung, in der linken Hand ein Yuppie-Telefon, in der rechten einen alten Katalog haltend und mit den Tränen kämpfend, klingelte oder jedenfalls dudelte das Telefon wieder, und ich drückte mit einem geschickten Daumen auf den grünen Knopf und hielt es mir ans Ohr und es war wieder Werner und er sagte: »Glaub bloß nicht, Charlie, dass du einfach auflegen kannst, bloß weil du so ein albernes Funktelefon hast!«
    »Kann ich wohl«, sagte ich.
    »Kannst du nicht«, sagte Werner.
    »Naja«, sagte ich, »eigentlich ist es nicht auflegen, es ist eher wegdrücken!«
    Ich drückte ihn weg und stellte das Telefon aus. Das war ja das Gute an diesen Dingern, dass man sie ausschalten konnte. Ich hatte Leute in den Siebzigern gekannt, die ihr Telefon in den Kühlschrank gestellt hatten, weil man es damals noch nicht mal ausstöpseln oder wenigstens leiser stellen konnte. Bei diesem Ding gab es einen Knopf, und wenn man länger draufdrückte, ging es aus. Fantastisch!
    Ich kaufte einen Katalog und ließ ihn mir in eine undurchsichtige Tüte packen, damit ich nicht dauernd draufgucken musste. Draußen schien die Sonne. Ich ging einen Kaffee trinken und rauchen, mehr konnte ich im Moment nicht tun.

47. Michael und Monika
    Als ich am nächsten Morgen in die Werkstatt kam, war der Wagen noch auf der Hebebühne und das vordere linke Rad ab. Darunter stand der Mann und schraubte an irgendwas herum. In der Nähe standen zwei Kinder, keine Ahnung, wie alt die waren, klein irgendwie, aber nicht zu klein, ein Junge und ein Mädchen, die hielten jeder

Weitere Kostenlose Bücher