Magical
Schmerz durchzuckte meinen Arm.
Charlie sagte zum ersten Mal etwas, seit wir gefangen worden waren. »Kendra, was willst du tun?«
Alles schien auf mich einzustürzen und ich wollte ihn anschreien, dass es nicht meine Schuld war. Ich hatte ihn vor der Pest gerettet. Ich wusste nicht mehr, wer ich war.
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte ich. »Ich hole uns hier heraus.«
»Ah, da seid ihr ja, meine Schätzchen, bereit zum Mästen.«
»Lasst uns frei!« Unwillkürlich zog ich an den Schnüren. Dabei schlangen sie sich so eng um mich herum, dass meine Arme taub wurden, als würde das Blut nicht mehr in ihnen zirkulieren.
»Euch freilassen?« Die Hexe lachte. »Aber ihr seid so hungrig und es ist so weit bis zum nächsten Dorf. Wenn ich euch gehen lasse, werdet ihr verhungern. Nein, nein, ich wäre eine schlechte Gastgeberin, wenn ich euch gehen ließe, ohne euch etwas zu essen gegeben zu haben. Ich weiß etwas Besseres.«
Sie zauberte zwei Löffel aus schimmerndem Metall aus der Luft, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Dann machte sie eine Handbewegung, und die Löffel schaufeltenaus zwei Schüsseln etwas Graues, das aussah wie Suppe. Sie bewegten sich auf Charlie und mich zu.
»Macht den Mund auf, liebe Kinder. Esst euren Haferbrei!«
Unwillkürlich ging mein Mund auf. »Hey!«
Zu spät. Mein Mund füllte sich mit Haferbrei, der genau wie der von Mutter schmeckte, von der Süße her genau richtig. Ich wollte weinen. Wenn ich zu Lebkuchen verbacken würde, würde ich dann zu Mutter und Vater in den Himmel kommen? Oder würden wir als Gebäck auf Erden bleiben? Es gibt Leute, die behaupteten, dass Hexen keine Seele hätten. Hatte ich meine eigene Seele verkauft, um Charles zu retten? Oder war ich so oder so eine Hexe, egal ob ich Zauberei anwandte oder nicht? War mein Schicksal von Anfang an besiegelt?
Ich konnte nicht mehr länger darüber nachdenken. Alles, was ich tun konnte, war kauen und schlucken, kauen und schlucken, während der Haferbrei Löffel für Löffel aus den Schüsseln geschaufelt wurde und meine Kehle hinunterrutschte.
»Halt! Halt!«, gurgelte Charlie, als der Löffel immer wieder auf ihn zukam.
Ich versuchte, meine Lippen zusammenzupressen. Das klappte einen Augenblick lang, aber dann wurden sie von einem noch stärkeren Zauber auseinandergezwungen. Die Hexe nickte zufrieden und ging weg.
Die Löffel fuhren mit ihrer Zwangsernährung fort, wir hatten kaum Zeit, den einen Bissen zu schlucken, bevor der nächste kam. Wieder kämpfte ich darum, meinen Mund zu schließen. Dieses Mal versuchte ich, mich an den Tag zu erinnern, an dem ich Charles geheilt hatte. Ich hatte gebetet. Aber dann hatten sich meine Gebete in etwas anderes verwandelt, in Worte, die tief aus meinem Bauch kamen, Worte aus einer uralten Sprache, die ich nicht verstand. Und doch verstand. Und mit diesem Verstehen war die Magie durch mich hindurchgeflossen.
Vielleicht war es ja auch nur eine Frage der Konzentration.
Mit aller Macht starrte ich Charlie an, starrte den Einzigen an, der mir in einer Welt geblieben war, in der nicht einmal eine Henne überleben konnte. Sein Mund sträubte sich gegen das Eindringen des Löffels, und seine Augen sahen die Schwester flehend an, bettelten darum, dass sie dem Löffel Einhalt gebiete. Weder konnte ich hinschauen, noch konnte ich meinen eigenen Löffel ansehen. Stattdessen rollte ich meine Augen in ihren Höhlen ganz weit nach hinten, in den Kopf, so wie ich es getan hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war und Mutter ärgern wollte. Ich versetzte mich zurück in unser Haus, diesen einst so geliebten Ort. Ich zwang die Hexe in mir, sich zu zeigen.
Sie kam. Ich spürte, wie sich der Raum drehte. Trotz des elenden Löffels machte ich den Mund weit auf und die Worte strömten aus mir heraus. Sie schwebten um meinen Kopf und durch das Zimmer wie die Tücher eines Zauberers. So sahen sie vor meinem geistigen Auge aus – Worteaus Scharlach, Smaragd und Gold. Worte, die aus mit heraus und durch den Raum wirbelten, und irgendwie wusste ich, was sie bedeuteten, auch wenn ich es eigentlich nicht wusste. Ich beschwor uralte Geister herauf, mir zu Willen zu sein, die Erde zu bewegen und Donner dröhnen zu lassen, und plötzlich merkte ich, dass ich nicht mehr zum Essen gezwungen wurde. Ich hörte, wie mein Löffel klappernd zu Boden fiel. Und dann hörte ich Charlies Löffel.
»Wa… was ist passiert?«, fragte er.
Ich sah geradeaus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß
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