Magie
Einheimischen konnte sie lesen und schreiben, logische Schlüsse ziehen und …
Ihr Vater blickte auf und reichte ihr die Nadel und den verbliebenen Faden. Ordentliche Stiche hielten die Hautlasche über dem Fingerstumpf des Jungen zusammen. Da sie wusste, was als Nächstes kam, nahm Tessia ein wenig Watte und Verbandszeug aus der Heilertasche und reichte sie ihm.
»Nimm das hier«, sagte er zu der Mutter.
Die Frau ließ die andere Hand des Jungen los und nahm von Tessias Vater etwas Verbandmull und Watte entgegen. Dann legte der den Fingerstumpf mitten auf die Watte und griff nach der Aderpresse am Arm des Jungen.
»Wenn ich dies hier lockere, wird das Blut in seinem Arm seinen Rhythmus wiederfinden«, erklärte er. »Sein Finger wird anfangen zu bluten. Du musst die Watte fest um den Finger drücken und gedrückt halten, bis das Blut einen neuen Pulspfad findet.«
Die Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte. Als Tessias Vater die Aderpresse lockerte, nahmen der Arm und die Hand des Jungen langsam wieder einen gesunden, rosigen
Ton an. Blut quoll zwischen den Stichen hervor, und die Mutter schloss hastig ihre Hand um den Stumpf. Der Junge verzog das Gesicht. Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
Tessia unterdrückte ein Lächeln. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es klug war, eine Familie in den Heilungsprozess einzubinden. Es gab ihnen das Gefühl, nicht vollkommen hilflos zu sein, und sie würden den Methoden, die er anwandte, weniger argwöhnisch oder geringschätzig gegenüberstehen, wenn sie daran teilhatten.
Nach einer kurzen Wartezeit überprüfte ihr Vater den Stumpf, dann bandagierte er ihn fest und gab der Familie Anweisungen, wie oft die Verbände zu wechseln wären, dass sie sauber und trocken gehalten werden mussten, wenn der Junge seine Arbeit wieder aufnahm (er war nicht dumm genug, den Eltern zu sagen, sie sollten den Jungen zu Hause behalten), wann sie endgültig abgelegt werden konnten und auf welche Zeichen einer Entzündung sie achten mussten.
Während er die Medikamente und zusätzlichen Verbände auflistete, die sie benötigen würden, nahm Tessia die gewünschten Dinge aus seiner Tasche und legte sie auf die sauberste Stelle des Tisches, die sie finden konnte. Den amputierten Finger wickelte sie ein und schob ihn beiseite. Patienten und ihre Familien zogen es vor, solche Dinge zu vergraben oder zu verbrennen, vielleicht weil sie sich Sorgen machten, was damit geschehen würde, wenn sie sich nicht selbst darum kümmerten. Zweifellos hatten sie die beunruhigenden und lächerlichen Geschichten gehört, die von Zeit zu Zeit die Runde machten: Angeblich experimentierten Heiler in Kyralia heimlich mit amputierten Gliedmaßen, mahlten Knochen zu magischen Tränken oder brachten es irgendwie fertig, sie wiederzubeleben.
Nachdem sie die Nadel gesäubert und über dem Brenner gereinigt hatte, packte sie sie mitsamt den anderen Instrumenten wieder ein. Das Operationsbrett würde später zu Hause gesäubert werden müssen. Sie löschte den Brenner und wartete, während die Familie ihnen dankte.
Auch dies war ein gründlich einstudierter Teil ihrer Arbeit.
Ihr Vater hasste es, wenn Patienten ihn mit Dankesbekundungen überschütteten. Es war ihm peinlich. Schließlich bot er seine Dienste nicht kostenlos an. Lord Dakon versorgte ihn und seine Familie im Austausch dafür, dass er sich um die Menschen seines Lehens kümmerte, mit einem Haus und mit einem Einkommen.
Aber indem er ihren Dank bescheiden und geduldig entgegennahm, das wusste ihr Vater, erhielt er sich das Wohlwollen der Einheimischen. Geschenke nahm er jedoch grundsätzlich nicht an. Alle Untertanen Lord Dakons zahlten ihrem Herrn einen Zehnten, was bedeutete, dass sie Tessias Vater bereits für seine Dienste entlohnt hatten.
Tessias Aufgabe bestand darin, auf den richtigen Augenblick zu warten, um sich einzuschalten und ihren Vater daran zu erinnern, dass noch mehr Arbeit auf sie wartete. Die Familie entschuldigte sich dann. Ihr Vater entschuldigte sich. Und schließlich geleitete man sie hinaus.
Aber als der richtige Augenblick näher kam, wurde draußen das Trommeln von Hufschlägen vernehmbar. Alle hielten inne, um zu lauschen. Die Hufschläge brachen ab, an ihre Stelle traten Schritte, dann ein Klopfen an der Tür.
»Veran, der Heiler? Ist Veran der Heiler hier?«
Der Bauer und ihr Vater traten gleichzeitig auf die Tür zu, dann blieb ihr Vater stehen, sodass der Mann die Tür selbst öffnen konnte. Ein gut gekleideter
Weitere Kostenlose Bücher