Magyria 01 - Das Herz des Schattens
hastete vorwärts, doch das Gewicht des Mädchens lähmte jeden ihrer Schritte. Sie kam nicht vorwärts, keuchend stapfte sie durch den hohen Schnee, ihre kostbare Last im
Arm, und wie in einem Alptraum wollten ihre Füße sich nicht vom Boden lösen. Hinter ihr näherten sich bereits die Schatten.
»Ach, Hanna, was wird das?« Atschoreks Stimme, ihre kalte Freundlichkeit, trieb Hanna die Tränen in die Augen. »Glaubst du, du kannst uns entkommen?«
Noch ein Schritt. Und noch einer. Schmerz und Schwindel zwangen sie zu Boden. Als sie fiel, dachte sie nur daran, dass Réka sich dabei nicht verletzen durfte, dann lag sie wieder neben dem Mädchen im Schnee, und über ihr tauchte die rothaarige Vampirin auf, flankiert von einer Reihe dunkler Schatten.
»Du kannst mich töten«, keuchte Hanna. »Aber es nützt dir nichts. Rein gar nichts.«
»Ach, Hanna. Du langweilst mich allmählich. Réka hat Kunun ihr Leben gegeben, es ist ganz gleich, wann wir es uns nehmen. Und du - willst du wirklich mit ansehen, was wir mit Mattim tun, wenn du nicht brav bist?« Sie wandte sich an die anderen. »Wo ist er? Bringt ihn her. Wir töten ihn jetzt, vor ihren Augen.«
»Mattim ist nicht da.«
»Dann sucht ihn, verdammt noch mal!« Sie wies ein paar Schatten an, die Mädchen zu bewachen, und ging wütend über den aufbrausenden Protest hinweg. »Hier auf dem Eis. Warum nicht hier auf dem Eis? Ihr habt aus dem Krug getrunken, nicht wahr? Und es wirkt, wie ihr seht. Also stellt euch nicht so an!« Im nächsten Moment verschwand sie im wirbelnden Schneefall.
Hanna lag neben Réka und legte einen Arm um sie.
»Wach auf«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Réka, bitte, du musst aufwachen. Wenn wir beide schnell genug sind, entkommen wir ihnen vielleicht. Bitte, Réka, stirb nicht. Du musst leben. Kunun hat dich betrogen. Du wirst nicht sein wie er. Bitte, Réka, du musst leben!«
Was hatte die Königin ihrem Gatten erzählt? Und Mirita? Waren sie zu Farank gekommen und hatten darüber geklagt, dass Mattim sich geweigert hatte, sie zur Pforte zu führen, dass er Hals über Kopf davongerannt war? Er bezweifelte es. Elira würde den Schmerz ihres Geliebten nicht mehren, indem sie ihm davon erzählte. Farank hatte nie erfahren, dass sie Mattim bereits begegnet war. Wie hätte sie auch davon berichten sollen, ohne den Namen ihres Sohnes auszusprechen?
»Drei Lichter waren es. Das hellste ist fort, und der Winter ist über uns hereingebrochen«, sagte der König langsam. Aus seiner Stimme sprach sein ganzer Schmerz. Brüchig klang sie, lichtlos.
Mattim hatte gewusst, dass sein Vater das vorbringen würde. Es war ein Beweis, der nicht leicht zu entkräften war.
»Ich bin über den Fluss geschwommen«, sagte der Junge leise, »und zu ihm gegangen. Ich fiel vor ihm auf die Knie, vor Kunun … und in diesem Moment verdunkelte sich die Welt. Licht, das sich freiwillig aufgibt, reißt alles hinab in die Finsternis. Es tut mir so leid, Vater. Trotzdem musste ich es tun. Ich bringe dir den Sieg. Nicht meinem Bruder, sondern dir. Du musst bloß zugreifen. Allerdings haben wir wenig Zeit.«
Der König hatte keinen Grund, ihm zu glauben, Mattim wusste das. Keinen Grund außer dem, dass er seinem Sohn glauben wollte. Langsam ging der König auf ihn zu. Jeder seiner Schritte durch den kleinen Raum schien eine Flutwelle von Licht vor sich her zu tragen, ein ganzes Meer, das um ihn herum flutete, eine Fackel, die brannte und brannte, unaufhörlich. Trotz der Dunkelheit seiner Augen und seiner Stimme war das Licht noch immer da, weder Angst noch Schmerz, noch Traurigkeit konnte es vertreiben.
»Mattim«, flüsterte Farank.
Alle Worte, die der Prinz hätte sagen können, waren bereits gesagt. Jetzt war nur noch diese Stille zwischen ihnen, eine fragende, behutsame Stille, deren Duft vertraut war. So hatten sie früher nebeneinander auf der Mauer gestanden, wortlos einig, zwischen sich ein Vertrauen, das keiner Beweise bedurfte. Doch nun blickten sie einander in die Augen, nun standen sie sich gegenüber, und Mattim war auf einmal klar, dass sie nie wieder dasselbe sehen würden.
Der König streckte beide Hände nach seinem Sohn aus.
Und Mattim verging nicht. Er spürte das Licht wie eine Quelle der Wärme und des Lebens; nie hatte er deutlicher gefühlt, was das Licht bedeutete. Als er es selbst noch in sich trug, war es ihm selbstverständlich vorgekommen, aber jetzt erst begriff er, was es war, das sich dort nach ihm ausstreckte, lebensspendend
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