Magyria 01 - Das Herz des Schattens
töten.«
Mattim seufzte. Dann ging er zurück zu seiner Freundin, die reglos im Schnee lag, und hob sie auf, so wie er zuvor Réka getragen hatte, und brachte sie zurück zu ihren Feinden, durch die wirbelnden Schneeflocken.
»Ich fühle mich so schwach«, flüsterte Hanna, den Kopf an seine Brust gelehnt.
»Ich muss jetzt gehen. Sofort. Ich lege dich gleich neben Réka. Sie werden bald merken, dass der Krug nicht voll ist. Bevor es so weit ist, musst du Réka nehmen und loslaufen. Sie ist ganz leicht. Du musst fliehen, so schnell du kannst. Versprich mir das. Lass nicht zu, dass sie dich fassen. Der Schnee wird deine Spuren zudecken. Wirst du das schaffen?«
»Geh«, flüsterte sie. »Geh nur, Mattim, ich liebe dich.«
Wie eine Tote sah sie aus, als er sie neben Réka in den Schnee bettete. Sie hielt die Augen geschlossen, und Schneeflocken legten sich auf ihre Wimpern. Es war unmöglich, es zu tun. Die beiden Mädchen hierzulassen, bei den Schatten, einfach zu gehen, und darauf zu vertrauen, dass Hanna die nahezu unmögliche Flucht gelang … Aber er hatte keine andere Wahl, als sich loszureißen und zwischen den Schatten zu verschwinden, hinweg aus Kununs Sicht, und dann rückwärts, einen Schritt nach dem anderen, von der Menge fort …
Erst als er weit genug entfernt war, wandte er sich dem Fluss zu. Am Ufer streifte er seine Schuhe ab und spuckte das Blut, das er noch im Mund behalten hatte, auf seine Hände. Damit rieb er sich die Fußsohlen ein. Vorsichtshalber; vielleicht hielt der Schutz so ein klein wenig länger. Dann öffnete er den Rucksack und holte die Schlittschuhe heraus. Rasch zog er sie an.
Der erste Schritt aufs Eis. Erschauernd. Instinktiv erwartete Mattim, dass das Licht seine glühenden Hände nach
ihm ausstreckte. Aber der Fluss duldete ihn, das Eis trug. Er horchte auf die leisen Stimmen der Schatten weiter unten am Ufer. Noch hatten sie den Betrug nicht entdeckt. Noch war Hanna nicht geflohen. Noch hatte die Suche nach ihr nicht begonnen. Er atmete tief ein und begann zu laufen.
NEUNUNDDREISSIG
AKINK, MAGYRIA
Leichtfüßig glitt Mattim über das Eis. Er flog nur so dahin. Jeder Augenblick zählte, jeder Atemzug. Er musste so schnell sein wie nie zuvor. Keine fünfhundert Schritte waren es für die Schatten, wenn sie losmarschierten, und bis dahin musste er seine Aufgabe erfüllt haben.
Vor ihm lag die Stadt. Wie eine Glocke wölbte sich das Licht über ihr, schimmernd, verheißungsvoll, tödlich, ja, auch das, wie hätte er es vergessen können? Unter ihm, unter der dicken Schicht des Eises, fand es seinen Widerhall, ein Glimmen, fast nicht wahrnehmbar, aber er war sich dessen bewusst, dass es jederzeit hervorbrechen konnte. Wo waren die Wachen, die ihn kommen sahen, die Alarm ausriefen? Falls sie ihn bemerkten, warteten sie geduldig auf ihn. Falls nicht, würden auch Kunun und seine Schatten unbemerkt auf die andere Seite gelangen. Vielleicht. Der Prinz erreichte die Kaimauer, tastete sich an der dunklen Wand entlang zu einer Stelle, wo Sprossen eingelassen waren. Hastig zog er die Schlittschuhe wieder aus und kletterte rasch hoch, mit bloßen, immer noch blutverschmierten Füßen auf den eiskalten Stäben.
Er war in Akink. Kurz verharrte er; Jubel brannte in ihm auf, Glück, kurz und blendend wie ein Blitzstrahl, dann trieb ihn seine Aufgabe weiter, und er verschmolz mit der Dämmerung zwischen den Häuserzeilen.
Auf dem Weg hinauf zur Burg dachte Mattim nicht darüber nach, was er tat. Er huschte von Schatten zu Schatten. Glitt durch Häuserwände, wenn Menschen ihm entgegenkamen,
und verschwand in dunklen Nischen, so als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als sich unsichtbar durch diese Stadt zu bewegen. Ein heimlicher Gast, wie ein Dieb in der Nacht.
In einer dunklen Ecke, die jeden Schatten einlud, schlüpfte der Prinz durch die Burgmauer und ließ sich, als er die Schritte der Wächter genau vor sich hörte, einfach in den Boden fallen, wo er in einem spärlich beleuchteten Kellergang aufkam, auf allen vieren, geduckt. Die Luft war rein. Er huschte Treppen und Gänge hoch, mit den lautlosen Schritten des Wolfs, wich Patrouillen und Bediensteten aus, horchte, um Hinweise auf den Aufenthaltsort des Königs zu erlangen, und ging schließlich durch eine Tür in ein karg eingerichtetes Zimmer. Dort saß König Farank vor dem Fenster an einem schlichten Holztisch, auf dem nichts als eine kleine Öllampe stand.
»Vater«, flüsterte er.
Der Lichtkönig fuhr
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