Magyria 01 - Das Herz des Schattens
herum. »Mattim!« Der Monarch sprang auf und warf seinen Stuhl dabei um, dann schien er sich daran zu erinnern, dass es diesen Namen nicht mehr gab, diesen Sohn nicht mehr gab. Er stand da, die Hände vor sich ausgestreckt, als wüsste er nicht, ob er ihn abwehren oder umarmen sollte. Hektisch blickte er zur Tür, wollte rufen und rief doch nicht, dann schaute er zu der kleinen Lampe auf dem Tisch.
»Ich gehöre dem Licht«, sagte Mattim. Er konnte nicht lügen. Er hatte es nie vermocht. Ein jeder konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch, offen und frei, seinen Kummer und seine Sehnsüchte. Er wusste das. »Ich bin immer noch der Prinz des Lichts.« Er log, und doch war es keine Lüge. Denn er war beides, Schatten und Lichtprinz, hatte nie ganz aufgehört, das zu sein, was er war. So hatte er auch Kunun nur die eine Wahrheit gesagt und die andere verschwiegen. In seinen Worten lagen seine Sehnsucht und seine Trauer und sein Schicksal: Akink. Es war die Seite, für
die er kämpfte. Immer noch für das Licht. »Sieh her.« Der Junge zog sein Hemd aus, das blutbefleckte. »Ich habe gegen die Schatten gekämpft. Die Wunden sind noch ganz frisch. Keine Bissspuren. Sieh genau hin.«
Er drehte sich einmal herum, bevor er sich das Hemd wieder überstreifte, um die Stiche, Schnitte und genähten Wunden zu verbergen. »Hör mich an, Vater. Hör mir zu. Wirf nicht die Lampe nach mir, brennendes Öl bekommt niemandem gut.« Er lachte leise.
Der König starrte ihn immer noch an, wachsam.
Die Augen seines Vaters ließen Mattim alles vergessen, was er hatte sagen wollen, denn in ihnen lag eine Stummheit, die er noch nie darin gesehen hatte. Das Schweigen zwischen ihnen, wenn sie auf den Wald hinausgeblickt hatten, war friedlich und liebevoll gewesen wie ein lauer Sommerabend, wie der Duft alter, von der Sonne aufgeheizter Steine. Dieses Schweigen dagegen war wie ein Schlag in die Magengrube, wenn man sich krümmte und nicht zu dem Schrei durchdringen konnte, den man ausstoßen wollte. Miritas Worte fielen ihm ein: Jeden Abend zieht sich mein Herz zusammen, als wollte es aufhören zu schlagen. Diese Dunkelheit ist meine Dunkelheit geworden. Es hört niemals auf. Abend und Morgen und wieder Abend und Morgen … Immerzu ist es dunkel um mich. Das Licht kommt nicht mehr. Die Sonne wird nie wieder so aufgehen, wie sie früher aufging, hell und strahlend. Und nie wieder werde ich das Licht in deinen Augen sehen.
Mattim wollte sich abwenden, bevor dieser Schmerz auf ihn übergriff, aber er wusste, wenn er das tat, war alles verloren. Wie einen Anker warf er seinen Blick aus, um seinen Vater aus der Tiefe seines Schweigens und seiner Dunkelheit heraufzuholen.
Mühsam fand er zu den Worten zurück. »Ich trete vor dich hin, ohne zu vergehen.« Hannas Blut schützte ihn. Er hatte den Geschmack ihres Lebens immer noch auf der
Zunge. Die Zeit drängte, drängte so sehr! Trotzdem zwang er sich zur Ruhe. »Ich bin über den Fluss gekommen, über das Eis.«
Vorsichtig öffnete Hanna die Augen. Ihr war schwindlig und leicht übel. Aufspringen, Réka hochreißen, draufloslaufen, bis zur Höhle - wie stellte Mattim sich das vor? Sie hörte die Stimmen der Schatten durch den tanzenden Schnee. Ganz nah waren sie. Gleich würden sie entdecken, dass Mattim ihnen zu wenig Blut gebracht hatte. Sie hatte nur noch ein paar Augenblicke.
Hanna tastete nach Rékas Hand. So kalt. Lebte sie denn wirklich noch? Man konnte doch einen Stich ins Herz nicht überleben? Vielleicht irrte Mattim sich. Vielleicht hatte Réka längst ihren letzten Atemzug getan, irgendwo auf dem langen Weg an den Fluss oder hier im Schnee, in der Kälte, und es gab nichts mehr zu hoffen. Hannas Finger legten sich über Rékas Handgelenk. Und da war, ganz schwach, kaum fühlbar, der Puls.
Hanna richtete sich ganz langsam auf, erst auf die Knie, und wartete, dass der Schwindel nachließ.
»Schnee! Verdammt, wieso ist da Schnee in dem Krug?«
Kununs Wutschrei zerriss die gespannte Stille. Just in dem Moment packte Hanna Réka, zog sie hoch und stolperte die Uferböschung hinunter. Mattim hatte gesagt, dass sie zurück zur Höhle fliehen sollte, aber zwischen ihr und dem Wald lagerte das Heer der Schatten, und falls sie je die Chance gehabt hatte, unbemerkt und vom Schnee geschützt dort hinzugelangen, so hatte sie diese verpasst.
»Dort! Dort ist sie!«
Mattim hatte auch behauptet, Réka wäre nicht schwer, Hanna hatte allerdings einen ganz anderen Eindruck. Sie
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