Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Strafe auf?«
Hanna atmete tief durch. Sie legte ihre Hand auf Rékas kleine Faust. »Was wirst du sein? Wenn du wieder ein Schatten wärst, müsstest du zurück nach Akink. Aber du hast nicht erlebt, wie es war, als du fort warst. Deine Eltern zerbrechen daran. Ich glaube, du hast keine Vorstellung davon, was du deiner Mutter antust. Und Attila. Und …«
»Doch, die habe ich«, widersprach Réka. »Ich habe es in mir gefunden, dieses Gefühl, das du hattest, als sie hier allein waren.«
»Trotzdem willst du …?« Sie betrachtete das Mädchen in dem dunklen Samtkleid. Eine Fremde, die in einer anderen Wirklichkeit lebte, nicht wie eine Schauspielerin, sondern wie eine Frau aus einer vergangenen Epoche.
»Ich weiß alles«, wisperte Réka. »Ich fühle alles. Das ist viel schlimmer, als das Gedächtnis zu verlieren. Viel schlimmer, als ein Schatten zu sein und zu wissen, dass Kunun mich nicht liebt. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie furchtbar es für mich ist, Mattim mit deinem Herzen zu sehen? Es ist zu viel … Ich habe gedacht, ich schaffe es, ich halte es aus. Wenn ich mich erst daran gewöhnt habe. Aber es geht nicht. Deshalb … Ich weiß auch, was das für dich bedeutet. Ich weiß, was du für mich fühlst. Und für meine Familie. Ich spüre es.« Réka hielt Hannas Hände fest.
»Bitte, Hanna. Gib mir mein Leben zurück. Gib mir meinen Tod zurück.«
»Lass mir ein wenig Zeit.« Was hatte sie für eine Wahl? »Wahrscheinlich führt kein Weg daran vorbei. Aber nicht jetzt. Wir müssen warten, bis es dunkel ist.«
»Es tut mir leid«, sagte Réka. »Ich weiß, wie gefährlich es für dich ist. Ich hätte dir schon heute Nacht alles sagen müssen. Dann hättest du jetzt gleich zum Flughafen fahren können.«
»Ich glaube nicht, dass es auf einen Tag ankommt«, meinte Hanna.
Oft saß Mirita stundenlang am Fenster und starrte auf den Fluss hinaus. Die Finsternis verbarg ihn, aber sie konnte das leise Murmeln der Wellen hören, das sanfte Lied der Strömung. Wenn das Wolfsgeheul aus den Wäldern verstummte, erklang es wie eine Antwort aus dem Wasser, fast unhörbar, aber dennoch eine Antwort. Manchmal schien es ihr, als wäre der Donua heller als die Nacht, die über ihm und über allem lag, als wäre dort unten ein Morgen, der sich irgendwann hervorwagen würde, strahlend wie ein König oder wie ein Feldherr, hinter sich die Armee, die alle Schatten zerschmetterte.
»Mirita?« Ihre Mutter kam mit zwei Tassen Tee ins Zimmer. »Grübelst du wieder?«
»Mir ist langweilig«, brach es aus ihr heraus. »Was gibt es noch zu tun? Ich habe nichts mehr zu bewachen. Ich habe nichts mehr, wofür ich kämpfen könnte. Was soll ich nur anfangen, mit dieser endlosen Zeit? Wofür brauchen Tote überhaupt Zeit? Diese Existenz ist so sinnlos, dass mir übel wird.«
»Tote?« Ihre Mutter lächelte. »Ach, Mirita. Ein hübsches Mädchen wie du sollte so etwas nicht sagen. Es gibt immer ein Ziel, Hoffnung, irgendetwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
»Ja, und was?«, fragte sie. »Dir ergeht es doch genauso! Du schlenderst nicht mehr über den Markt, um einzukaufen, und du brauchst dir nicht mehr zu überlegen, was du heute Leckeres kochst. Diese andauernde Dunkelheit lähmt uns beide. Uns alle. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwann mit allem verschmelze. Dass ich durch diesen Fußboden sinke und in die Erde falle – und dann? Würde sich das Rad der Gedanken in meinem Schädel endlich aufhören zu drehen? Wohl kaum.« Sie seufzte schwer, und ihre Mutter strich ihr liebevoll übers Haar.
»Zeit«, sagte die ältere Frau und berührte ihren Oberarm, dort, wo sie gebissen worden war. »Das ist es, was wir bekommen haben. Zeit, ich wage nicht zu behaupten, unendlich viel davon. Fang endlich an, sie zu nutzen, mein Kind. Sei, was du bist. Habe ich dich dazu erzogen, dass du aufgibst? Nicht, dass ich wüsste.«
Mirita hatte ihrer Mutter nie erzählt, dass sie auf der Brücke gestanden und sich gefragt hatte, ob sie tatsächlich springen würde. »Was bin ich denn?«
»Die beste Bogenschützin von Akink? Eine Flusshüterin? Eine Wächterin? Nicht irgendeine. Dir hat der König die Verhandlungen anvertraut, du …«
»Erinnere mich bloß nicht daran«, unterbrach Mirita sie. »Vermutlich verdiene ich kein anderes Schicksal als dieses. Grandioser kann man wohl nicht scheitern.«
»Wenn du nur herumjammerst, dann hast du dieses Schicksal wohl verdient.«
Mirita horchte darauf, wie die Tür zuschlug. Ihre
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