Magyria 02 - Die Seele des Schattens
war sofort hellwach.
»Hanna! Hanna, bist du das? Du musst kommen.«
»Mónika?« Hanna blickte in die fragenden Augen ihrer Mutter, die warnend den Kopf schüttelte. Ihre Eltern hatten sich lange nicht darüber beruhigen können, dass man ihre Tochter noch vor Ablauf der vereinbarten Zeit nach Hause geschickt hatte. Die Geschichte von dem bösen König, der über Akink und Budapest herrschte und sie verbannt hatte, konnte sie ihnen ja nicht erzählen. Und auch nicht, dass sie dort mehr verloren hatte als ein Jahr, das sie zum Studieren hätte nutzen können.
Ich hätte Mattim mitnehmen können … Dann wäre er jetzt bei mir … nicht als Wolf, sondern richtig. Nicht im Traum, sondern richtig.
Es war unfassbar, dass sie darauf verzichtet hatte. In einer Geschichte wäre ihr diese Entscheidung wie eine Heldentat vorgekommen, doch Helden zweifelten nicht so viel und nicht so schmerzhaft, Helden feierten ihren Sieg. Helden litten ganz gewiss nicht unter diesem Gefühl, mitten entzweigeteilt worden zu sein.
Wenn es allzu schlimm wurde, wenn der Zweifel zu ihr kam, ob sie das Richtige getan hatte, ein ungebetener und dennoch häufiger Gast, erinnerte Hanna sich an Mónikas Gesicht. An das Glück. Ein fremdes Glück, an dem sie keinen Anteil hatte. So wie die ganze Welt zu einer fremden Welt geworden war und das Leben zu etwas Fremdem, das anderen Menschen so selbstverständlich gehörte. Hanna hoffte nur, dass niemand merkte, wie wenig lebendig sie war.
»Was ist passiert?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung schluchzte so sehr, dass sie kaum zu verstehen war.
»Réka fragt nach dir. Ständig. Sie will sich nicht beruhigen. Kannst du bitte kommen? Der Arzt hat ihr etwas gegeben, aber es hilft nicht. Sie schreit und weint … Ferenc sagt, er macht das nicht mehr lange mit. Oh bitte, würdest du herkommen? Sie ruft die ganze Zeit nach dir. Den Flug bezahlen wir dir natürlich.«
»Ich weiß nicht …«, begann Hanna, doch dann erklang auf einmal eine andere Stimme. Leise und heiser.
»Hanna? Ich will mein Herz zurück.«
»Réka! Hat er … hat einer der Schatten …? Sie haben dich wieder gebissen?«
»Ich brauche mein Herz. Die Wölfe rennen über das blühende Gras. Ich brauche mein Herz, damit ich wieder weiß, wer ich bin.«
»Réka!«
Jetzt war Mónika wieder dran. »Ferenc will sie in die Psychiatrie einweisen lassen«, weinte sie. »Bitte, komm!«
»Ja«, sagte Hanna, »ja, natürlich, ich komme. Ich packe nur meine Sachen zusammen und nehme den nächsten Flieger.«
Als sie auflegte, sah sie in die besorgten Augen ihrer Mutter. »Fahr nicht. Diese Leute tun dir nicht gut. Ich will nicht, dass du wieder so zurückkommst wie beim letzten Mal.«
»Réka träumt meine Träume«, sagte Hanna. »Ich muss zu ihr, ich muss wissen, ob ich nicht einen schrecklichen Fehler gemacht habe. Ich muss zurück, Mama, ich kann nicht anders. Es gibt keinen anderen Weg.«
Hanna war so müde, dass ihr fast die Augen zufielen, denn sie hatte die ganze Nacht an Rékas Bett gesessen. Bei ihrer Ankunft im Haus der Szigethys hatte das Mädchen fiebernd in seinem Zimmer gelegen, aber seine Körpertemperatur war kaum höher als normal. Sie hielt Hannas Hände umklammert, während Mónika Ferenc nach draußen zog. »Lass die beiden allein.«
»Mit ihr hat es doch erst angefangen!«, hatte er geschnaubt und Hanna recht deutlich spüren lassen, dass sie hier unerwünscht war. Attilas lautstarke Begeisterung machte das mehr als wett. Seine Freudenjuchzer noch in den Ohren, hatte sie sich der Kranken zugewandt.
»Réka? Ich bin hier.«
»Wo ist mein Herz? Ich kann meine Seele nicht spüren. Die Wölfe laufen. So schön … Wenn ich sie sehe, muss ich weinen.«
»Es ist mein Traum, den du träumst«, sagte Hanna. »Ich verstehe es ja auch nicht. Aber es ist mein Traum.«
»Ich brauche mein Herz.«
Irgendwann war Réka eingeschlafen. Am Morgen wirkte sie sehr klar, ganz die Alte. Eine ein bisschen überdrehte Réka, die zu wenig aß und zu viel redete, von Dingen, auf die es nicht ankam. Von ihren Freundinnen – Valentina hatte sich eine froschgrüne Hose gekauft, man stelle sich das vor! – und von einem besonders ungerechten Lehrer.
Nachdem Mónika zur Arbeit gefahren war, setzten sich die beiden Mädchen in den Wintergarten und starrten hinaus in den Garten. Über ihnen verwandelte sich der späte Budapester Vormittag in ein lichtes, sanftes Grau.
Hanna überlegte, wie sie beginnen sollte.
»Du brauchst mich nicht zu
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