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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Er wollte, dass sie aufgab und ihre Stirnlampe einschaltete, wie eine feige Landratte.
    Doch sie schwamm weiter durch die Dunkelheit.
    Irgendwann begann der Meeresboden anzusteigen. Eine gewaltige Klippe, die ins Licht hinaufführte, ragte vor ihr empor. Der Meeresgrund veränderte sich. Der Schlamm verschwand unter zähflüssigen Klumpen halbzersetzten Erdöls: ein Jahrhundert der Ölverschmutzung, die unter einen riesigen, weltumspannenden Teppich gekehrt worden war. Generationen gesunkener Frachtkähne und Fischkutter tauchten geisterhaft auf dem Meeresboden auf, jeder ein Leichnam, eine Gruft samt Grabinschrift. Sie erkundete den ersten, auf den sie stieß, glitt durch die zerbrochenen Fensterscheiben und schräg liegenden Korridore und erinnerte sich vage daran, dass sich eigentlich Fische an solchen Orten versammeln müssten.
    Vor langer Zeit war das jedenfalls einmal so gewesen. Heute gab es hier nur noch Würmer und Weichtiere und eine Frau, die durch die Verschmelzung von Technologie und Ökonomie in eine Amphibie verwandelt worden war.
    Sie schwamm weiter.
    Inzwischen war es beinahe hell genug, dass man auch ohne Augenkappen etwas sehen konnte. Am Meeresgrund wanden sich träge Eutrophile – Geschöpfe, die so schwarz waren von Hämoglobin, dass sie selbst noch aus Felsgestein Sauerstoff herauspressen konnten. Sie schaltete kurz ihre Stirnlampe ein: Die Wesen leuchteten blutrot in dem unerwarteten Licht.
    Sie schwamm weiter.
    An manchen Stellen war das Wasser so trüb, dass sie die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Das schleimüberzogene Gestein, das unter ihr hinweg glitt, nahm unheimliche Formen an, wirkte wie zupackende Hände, verdrehte Gliedmaßen, hohle Totenköpfe, in deren Augenhöhlen sich unheimliche Gebilde wanden. Mitunter besaß der Schleim ein beinahe fleischliches Aussehen.
    Als sie den Sog der Brandung zu spüren begann, war der Meeresboden zur Gänze mit Leichen bedeckt. Sie schienen ebenfalls ganze Generationen zu umfassen. Manche waren kaum mehr als symmetrische Ansammlungen von Algen. Andere waren frisch genug, um aufzuschwimmen. Von einem widerwärtigen Auftrieb beseelt, kämpften sie gegen das Geröll an, das sie am Meeresboden hielt.
    Aber es waren nicht die Leichen, die ihr wirklich zusetzten. Was ihr zu schaffen machte, war das Licht. Selbst durch die jahrhundertealten schwebenden Partikelschleier gefiltert, schien es immer noch viel zu stark zu sein.
    Der Ozean zog sie hoch und drückte sie wieder hinab, in einem Rhythmus, den sie hören und spüren konnte. Eine tote Möwe trudelte in der Strömung vorbei, in Monofilamente verheddert. Das Universum war von einem einzigen Tosen erfüllt.
    Einen kurzen Moment verschwand das Wasser vor ihr. Zum ersten Mal seit einem Jahr sah sie wieder den Himmel. Dann klatschte eine große feuchte Hand gegen ihren Hinterkopf und tauchte sie erneut unter.
    Sie hörte auf zu schwimmen, unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollte. Doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Die Wellen, die unablässig in grauen, schaumbekrönten Reihen der Küste entgegeneilten, schoben sie den Rest des Wegs vor sich her.
    Keuchend lag sie auf dem Bauch, während das Wasser aus der Maschinerie in ihrer Brust hinauslief. Kiemen schlossen sich, Eingeweide und Atemwege bliesen sich wieder auf – fünfzig Millionen Jahre Evolution der Wirbeltiere auf dreißig Sekunden verdichtet, der Biotech-Industrie sei Dank. Ihr Magen, der unter chronischer Leere litt, krampfte sich zusammen. Der Hunger war ihr ständiger Begleiter geworden, so vertraut, dass sie sich kaum noch vorstellen konnte, ohne ihn zu sein. Sie zog sich die Schwimmflossen von den Füßen und erhob sich, taumelte, als sich die Schwerkraft bemerkbar machte. Ein unsicherer Schritt vorwärts.
    Die undeutlichen Umrisse von Wachtürmen stemmten sich gegen den östlichen Horizont, eine unregelmäßige Reihe abgebrochener Turmspitzen. Dicke zeckenähnliche Gebilde schwebten darüber, die riesengroß sein mussten: Lifter, die sich um die Überreste einer Grenze kümmerten, die Flüchtlinge und Bürger stets diskret voneinander getrennt hatte. Hier gab es keine Flüchtlinge mehr. Und auch keine Bürger. Hier gab es nur eine menschenähnliche Verschmelzung von Schlamm und Öl, in deren Innern sich Maschinen verbargen, eine unheimliche Meerjungfrau, die aus der Tiefe zurückkehrte. Unzerstörbar.
    Und das ganze endlose Chaos – die verwüstete Landschaft, die zerschmetterten Leiber, die vom Ozean verschlungen wurden, die

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