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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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es, als würde man Rosinenklumpen aus flüssiger Schokolade herauspicken. Ah. Ein weiterer Torso.
    Nur dass die Rosinen natürlich Arme und Beine gehabt hatten. Und Augen …
    Eine Möwe flog vorbei. Der Augapfel in ihrem Schnabel sah Perreault einen endlosen Moment lang flehentlich an.
    Und dann, zum ersten Mal – durch eine Milliarde Logikgatter, unzählige Kilometer Glasfaserkabel und Mikrowellen, die aus der geosynchronen Umlaufbahn zurückgeworfen wurden – erwiderte Sou-Hon Perreault den Blick.
    Brandon. Venesia. Key West.
    Oh man Gott … sie sind alle tot.
    Galveston. Obidos. Das Kongo-Massaker.
    Hör auf! Konzentrier dich! Hör auf, hör auf …
    Madras und Lepreau und Gur'yev – ein Ort nach dem anderen. Die Namen veränderten sich, und die Ökozonen veränderten sich, und die Zahl der Todesopfer blieb nicht für einen verdammten Augenblick lang konstant, doch es war immer das gleiche Lied, dieselbe endlose Prozession aus Körperteilen, die verschüttet, verbrannt oder zerfetzt waren …
    Alle sind sie zerstückelt …
    Lima und Levanzo und Lagos und das sind nur ein paar der Ls, Leute, es gibt noch viel, viel mehr .
    Es ist zu spät, zu spät, ich kann nichts mehr tun …
    Ihre Mechfliege schlug im selben Moment Alarm, als sie sich ausklinkte. Der Router startete eine Anfrage an den Medchip in Perreaults Wirbelsäule, runzelte die Stirn und schickte eine Nachricht an die anderen registrierten Bewohner ihres Apartments. Ihr Mann fand sie zitternd und teilnahmslos in ihrem Büro vor. Tränen bluteten unter ihrer Datenbrille hervor.
     
    Ein Teil von Perreaults Seele befand sich auf dem langen Arm von Chromosom 13, in einem leicht beschädigten Gen, das für die Serotonin-2A-Rezeptoren verantwortlich war. Bisher hatte die daraus resultierende Neigung zu Selbstmordgedanken noch nie ein Problem dargestellt, denn sie wurde im Privatleben wie im Beruf von Katalysatoren abgefangen. Es hieß, dass manche Pharma-Untemehmen gegenseitig ihre Produkte sabotierten. Vielleicht lag es ja daran: Irgendjemand hatte versucht, die Konkurrenz auszuschalten, und Sou-Hon Perreault war mit einem schadhaften Pflaster auf dem Arm an den Schauplatz des Jahrhundertbebens gegangen, ohne zu bemerken, dass ihre Gefühle immer noch eingeschaltet waren.
    Danach war sie für die Arbeit an der Frontlinie nicht mehr geeignet. Hatte jemand erst einmal einen solchen posttraumatischen Schock erlitten, würden die Katalysatoren, die nötig waren, um ihn stabil zu halten, ihm das Mittelhirn durchbrennen lassen. (Es gab Leute in diesem Berufszweig, die jedes Mal Anfälle bekamen, wenn sie hörten, wie ein Reißverschluss aufgezogen wurde – das Geräusch von Leichensäcken, die verschlossen wurden.) Doch Perreaults Vertrag umfasste noch weitere acht Monate, und niemand wollte in der Zwischenzeit ihre Talente oder ihr Gehalt verschwenden. Sie brauchte etwas weniger Aufwühlendes, etwas, das sie auch mit den gewöhnlichen Beruhigungsmitteln bewältigen konnte.
    Sie teilten ihr die Flüchtlingszone an der Westküste zu. Was für ein Witz: Die Zahl der Todesopfer war dort hundert Mal höher als in den Städten. Doch der Ozean räumte größtenteils selbst hinter sich auf. Die Leichen waren mitsamt dem Sand, dem Geröll und allen Felsbrocken, die kleiner waren als ein Güterwagen, ins Meer gespült worden. Übrig blieb eine vollkommen leergefegte Mondlandschaft.
    Jedenfalls im Augenblick.
    Nun saß Sou-Hon Perreault an ihrer Konsole und beobachtete eine Linie roter Punkte, die über eine Karte der Westküste von N'AmPaz hinweg krochen. Bei höherer Auflösung wurden aus einer Linie zwei, von denen eine aus dem Süden Washingtons nach NoKal unterwegs war, während die andere auf derselben Strecke nach Norden wanderte. Eine endlose Schleife automatisierter Überwachung – Augen, die durch Fleisch hindurchsehen, und Ohren, die Fledermäuse belauschen konnten. Gehirne, die intelligent genug waren, um auch ohne Perreaults Hilfe ihre Arbeit verrichten zu können, jedenfalls die meiste Zeit.
    Sie klinkte sich dennoch in sie ein und sah zu, wie die Außenwelt an ihnen vorbeiglitt. Irgendwie schienen die verstärkten Sinne der Mechfliegen realer zu sein als ihre eigenen. Wenn sie das Headset abnahm, wirkte ihre Welt wie in Watte gepackt. Sie wusste, dass es an den Katalysatoren lag; sie konnte sich nur nicht erklären, wieso alles viel klarer erschien, wenn sie in die Maschinen eingeklinkt war.
    Sie reisten entlang einer Messkurve zu- oder abnehmender

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