Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
angerufen.«
»Wann?«
»Um fünf Uhr früh. Ich konnte nicht schlafen. Ich fand keine Ruhe. Er befürchtet ständig, auf der Straße einen Anfall zu bekommen, aber ich habe Angst, dass ihm so etwas während der Arbeit passiert, verstehen Sie? Ich habe jedenfalls gehört, wie unten im Bistro das Telefon läutete. Unser Schlafzimmer liegt genau darüber. Die Wirtsleute sind nicht aufgestanden. Ich ahnte, dass es für mich war, und bin runter. An seiner Stimme habe ich gemerkt, dass er ganz schön in der Tinte saß. Er sprach ganz leise:
›Bist du’s?‹
›Ja.‹
›Bist du allein?‹
›Ja. Wo bist du?‹
›In der Nähe der Gare du Nord, in einem kleinen Café. Hör zu, Tine‹ – er nennt mich immer Tine –, ›ich muss unbedingt für einige Zeit verschwinden.‹
›Hat man dich gesehen?‹
›Das ist nicht der Grund. Ich weiß nicht recht. Ein Mann hat mich gesehen, ja, aber ich bin nicht sicher, ob er von der Polizei war.‹
›Hast du das Geld?‹
›Nein. Es ist passiert, bevor ich fertig war.‹
›Was ist denn passiert?‹
›Ich war mit dem Schloss beschäftigt, da fiel das Licht aus meiner Taschenlampe auf ein Gesicht in der Zimmerecke. Ich dachte schon, jemand sei lautlos hereingekommen und beobachte mich. Dann merkte ich, dass die Augen tot waren.‹«
Sie sah Maigret ins Gesicht.
»Ich bin überzeugt, dass Alfred nicht gelogen hat. Wenn er einen Mord begangen hätte, hätte er es mir gestanden. Ich erzähle Ihnen keine Märchen! Ich fühlte förmlich, wie er am anderen Ende der Leitung einer Ohnmacht nahe war. Er hat solche Angst vor dem Sterben …«
»Wer war denn der Tote?«
»Kann ich nicht sagen. Er hat mir keine langen Erklärungen gegeben. Er war die ganze Zeit auf dem Sprung einzuhängen, weil er Angst hatte, dass jemand mithört. Er sagte noch, sein Zug fahre in einer Viertelstunde.«
»Nach Belgien?«
»Vermutlich, weil er in der Nähe der Gare du Nord war. Ich habe im Fahrplan nachgesehen. Es gibt einen Zug um fünf Uhr fünfundvierzig.«
»Sie wissen auch nicht, aus welchem Café er angerufen hat?«
»Ich bin gestern in dem Viertel herumgelaufen und habe mich erkundigt, aber vergebens. Man hat mich wohl für eine eifersüchtige Ehefrau gehalten und mir einfach keine Auskunft gegeben.«
»Kurz gesagt, alles, was er Ihnen mitgeteilt hat, ist also, dass es eine Leiche in dem Zimmer gab, in dem er arbeitete?«
»Ich habe ihm noch ein paar Einzelheiten entlocken können. Er hat noch erzählt, dass es eine Frau war, dass ihre Brust blutüberströmt war und dass sie einen Telefonhörer in der Hand hielt.«
»Ist das alles?«
»Nein. In dem Augenblick, als er fliehen wollte – und ich kann mir vorstellen, in welchem Zustand er sich befand! –, hielt ein Auto vor dem Gitter.«
»Hat er ausdrücklich von einem Gitter gesprochen?«
»Ja. Ich erinnere mich genau an diesen Ausdruck. Jemand ist ausgestiegen und auf die Haustür zugegangen. Während der Mann den Hausflur betrat, hat Alfred das Haus durchs Fenster verlassen.«
»Und sein Werkzeug?«
»Er hat alles zurückgelassen. Er hatte eine Fensterscheibe herausgeschnitten, um ins Haus zu kommen. Davon bin ich überzeugt, denn das ist seine Gewohnheit. Ich glaube sogar, dass er es so machen würde, wenn die Tür offen stünde, denn er hat da einen kleinen Tick oder ist vielleicht abergläubisch.«
»Also ist er von niemandem gesehen worden?«
»Doch. In dem Moment, als er den Garten durchquerte –«
»Aha, er hat auch einen Garten erwähnt?«
»Ich habe das nicht erfunden. Ich wiederhole: In dem Moment, als er den Garten durchquerte, hat jemand aus dem Fenster gesehen und den Lichtstrahl einer Taschenlampe auf ihn gerichtet. Wahrscheinlich war das Alfreds eigene, die er dagelassen hatte. Er hat sich auf sein Rad geschwungen, ist davongebraust, ohne sich umzudrehen, ist bis ans Seine-Ufer gefahren, wo genau, weiß ich nicht, und hat sein Rad ins Wasser geworfen, weil er befürchtete, dass man ihn daran wiedererkennen würde. Er traute sich nicht, nach Hause zu kommen, sondern ist zur Gare du Nord marschiert, hat mich angerufen und mich angefleht, die Klappe zu halten. Ich habe ihm immer wieder gesagt, er soll sich nicht davonmachen, habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Er hat mir schließlich versprochen, postlagernd zu schreiben, wo er sich aufhält, damit ich zu ihm fahren kann.«
»Und er hat noch nicht geschrieben?«
»Der Brief hätte noch nicht ankommen können. Ich bin heute Morgen auf der Post
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