Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
darunter einige vom Sittendezernat, das alle nur ›die Sitte‹ nannten.
Seit Beginn der Verhandlung waren diese Inspektoren an strategischen Punkten inmitten der Zuschauermenge im Saal postiert, um die Gesichter und Reaktionen der Anwesenden zu beobachten.
»Offiziell also, Herr Kommissar, haben Sie Ihre Ermittlung am achtundzwanzigsten März abgeschlossen.«
»Ja, genau.«
»Haben Sie sich trotzdem nach diesem Datum gelegentlich mit dem Tun und Lassen von Personen beschäftigt, die mehr oder weniger mit dem Angeklagten in Zusammenhang stehen?«
Der Verteidiger stand auf, um Einspruch zu erheben. Offenbar wollte er einwenden, dass gegen seinen Mandanten keine belastenden Tatsachen vorgebracht werden dürften, die noch nicht in den Akten verzeichnet waren.
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Vorsitzende zu Duché. »Sie werden gleich sehen, dass ich nicht die Absicht habe, den Angeklagten zu belasten. Wenn ich von meiner richterlichen Befugnis Gebrauch mache, dann nur, um damit der Verhandlung möglicherweise eine andere Wendung zu geben.«
Der Generalstaatsanwalt sah den jungen Verteidiger mit leiser Ironie und ein wenig gönnerhafter Miene an.
»Ich wiederhole meine Frage: Hat Kommissar Maigret seine Ermittlung schlussendlich inoffiziell weitergeführt?«
»Ja, Herr Vorsitzender.«
»Eigenmächtig?«
»Im Einvernehmen mit dem Leiter meiner Dienststelle.«
»Haben Sie die Staatsanwaltschaft davon unterrichtet?«
»Erst gestern, Herr Vorsitzender.«
»Wusste der Untersuchungsrichter, dass Sie sich weiterhin mit dem Fall befasst haben?«
»Ich habe es ihm beiläufig gesagt.«
»Aber Sie haben weder auf seine Anweisung noch auf die des Staatsanwalts gehandelt?«
»Nein.«
»Es ist notwendig, dass das klar festgestellt wird. Deshalb habe ich diese gewissermaßen zusätzliche Ermittlung als inoffiziell bezeichnet. Aus welchem Grund, Herr Kommissar, haben Sie weiterhin Ihre Inspektoren bei Nachforschungen eingesetzt, die überflüssig geworden waren, nachdem die Anklage die Verweisung an das Schwurgericht beschlossen hatte?«
Im Saal war es plötzlich totenstill. Nichts regte sich mehr, nicht einmal mehr das leiseste Husten oder sonst irgendein Geräusch war zu hören.
»Ich war mit den Ergebnissen der Untersuchungen nicht zufrieden«, sagte Maigret in mürrischem Ton.
Er konnte nicht sagen, was in ihm vorging. Die Bezeichnung ›zufrieden‹ drückte nur unvollkommen aus, was er dachte. Die Fakten passten seinem vagen Gefühl nach nicht zu den Personen. Wie sollte er das in der steifen Atmosphäre des Schwurgerichts erklären, wo man ihm ganz präzise Fragen stellte?
Der Vorsitzende hatte ebenso viel Erfahrung in Kriminalfällen wie er, sogar noch mehr. Jeden Abend nahm er Akten mit in seine Wohnung am Boulevard Saint-Germain, wo in seinem Arbeitszimmer oft bis zwei Uhr morgens Licht brannte. Er hatte auf der Anklagebank und im Zeugenstand Männer und Frauen aus allen Gesellschaftsschichten vor sich gesehen.
Aber waren seine Kontakte mit dem Leben nicht doch letzten Endes realitätsfern geblieben? Er war nicht persönlich in der Werkstatt in der Rue de la Roquette gewesen oder in dieser merkwürdigen Wohnung am Boulevard de Charonne. Er kannte das pulsierende Leben in solchen Häusern ebenso wenig wie das auf belebten Straßen, in Kneipen oder Tanzlokalen dieses Viertels.
Die Angeklagten wurden ihm zwischen zwei Justizbeamten vorgeführt, und alles, was er von ihnen wusste, hatte er aus seinen Akten.
Fakten. Sätze. Wörter. Aber darüber hinaus?
Mit seinen Beisitzern war es nicht anders. Auch nicht mit dem Staatsanwalt. Ihr hochrangiges Amt isolierte sie von der übrigen Welt, sie lebten wie auf einer einsamen Insel.
Unter den Geschworenen sowie unter den Zuhörern befanden sich bestimmt einige, die in der Lage gewesen wären, Verständnis für Typen wie Meurant aufzubringen, aber sie hatten nichts zu sagen oder wussten nichts von den komplizierten Mechanismen der Justiz.
Stand Maigret nicht in gewisser Weise auf beiden Seiten?
»Bevor ich Sie weiterreden lasse, Herr Kommissar, möchte ich Sie bitten, uns zu sagen, was die Analyse der Blutflecken ergeben hat. Ich meine die Flecken, die auf dem blauen Anzug des Angeklagten gefunden wurden.«
»Es handelt sich um menschliches Blut. Genaue Laboruntersuchungen haben außerdem gezeigt, dass dieses Blut und das des Opfers genügend Ähnlichkeiten aufweisen, um wissenschaftlich sicherzustellen, dass wir es mit dem gleichen Blut zu tun
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