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Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Titel: Palast der Schatten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Fremde Frau
    Eiligen Schrittes, als würde sie verfolgt, lief Carla durch die Straßen. Ihr Atem schnitt ihr in die Brust. Sie musste ausruhen. Ausruhen? Es dämmerte bereits. Angst stieg in ihr auf wie schwarzer, öliger Rauch. Sie blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Weiter, weiter. Aber wohin? Sie fröstelte. Wohin nur? Sie schlug die Jacke fester um den Körper.
    Planlos hetzte sie durch das Dunkel. Die Gaslaternen leuchteten auf, streuten ihr seltsam gelbliches Licht über die Stadt. Sie warfen Carla als fliehende Gestalt an die Hausmauern, ein verhuschtes Wesen auf dem Weg ins Nichts.
    Nebel umhüllte sie wie in einem Traum. Verhangen die Häuserfronten, milchig trüb die Waschfrau mit dem Leiterwagen, die weißen Wäschesäcke wie schlafende Gespenster auf die Pritsche gebettet. Die Blumenfrau mit blassen Bouquets hinter angehauchtem Glas. Dumpf das Scheppern des Milchwagens mit seinen Metallkannen. Erstickt die Stimme des Schwammverkäufers, dessen Schwämme wie bleiche Hirne am Faden baumelten.
    Carlas Beine schnellten über das Pflaster. Sie stolperte, fand Halt an einem Laternenpfahl, umklammerte den Pfosten, als würde ihr Leben davon abhängen. Sie schloss die Augen. Schloss sie vor der Vergangenheit, während ihr Atem Wandlung keuchte. Etwas war geschehen, etwas, was sie sich selbst nicht zu erklären vermochte. Sie fühlte sich wie eine Schlafende, die aus einem Albtraum erwachte. Ein Stöhnen. Sie stieß sich vom Pfeiler ab, eilte voran. Fort, nur fort. Zum Bahnhof!
    Bremsen quietschten. Neben ihr hielt die Elektrische. Carla sprang auf, fischte einen Zwanzigmarkschein aus ihrer Handtasche. Der Schaffner wechselte, überreichte ihr das Billett mit argwöhnischem Blick.
    Die Tram heulte über die Schienen. Carla zwang sich, sich zu setzen. Unauffällig bleiben. Sie presste ihre Tasche an den Körper, das Gesicht zum Fenster gedreht. Geschäfte, Passanten, Lichter zogen vorüber hinter schmutzigem Glas, verschwommen, wie flatternde Stofffetzen im Dämmerlicht.
    Die Glocke schrillte. Carla fuhr zusammen. Hauptbahnhof.
    Sie stieg aus, hastete über den Vorplatz in die Schalterhalle. Der Fahrplan verschwamm vor ihren Augen. Ein Ruck fuhr durch ihren Körper. Der Schleier hob sich. Sie studierte Abfahrtszeiten, blickte auf die Bahnhofsuhr, eilte zum Schalter, schob das Geld hin, nahm die Fahrkarte entgegen.
    Der Schaffner hielt bereits die Kelle in die Höhe. Sie stieg ein, die Waggontür fiel zu. Ein durchdringender Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung unter dem Ächzen der Eisenräder.

    Das Coupé war leer. Kaum hatte Carla sich auf die hölzerne Bank gesetzt, erschien der Schaffner. Mit bebender Hand hielt sie ihm das Billett entgegen. Er lochte die Karte, zog sich ohne Nachfrage zurück. Ihr stieg die Aufregung die Kehle hinauf. Sie presste die Hand vor den Mund, taumelte durch den Korridor zur Toilette, zerrte die Tür auf, schlug sie hinter sich zu und spie in die Schüssel. Sie keuchte, wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund.
    In dem trüben Spiegel erblickte sie ein ausgelaugtes Gesicht mit Augen, die sie, von dunklen Schattenringen umschlossen, anstierten. Sie erschauderte vor der fremden Frau, durch deren leichenfahles Antlitz sich ein schwarzer, gezackter Riss zog. Als spalte das gebrochene Glas ihr Leben in zwei Hälften.
    Der Zug schwankte. Carla fand Halt an einem Eisengriff. Schwindlig und elend kehrte sie ins Abteil zurück. Sie riss das Zugfenster auf, um Atem zu schöpfen. Der kalte Nachtwind schlug ihr Haarsträhnen ins Gesicht. Er vermochte sie von dem Ekel, der sie gefangen nahm, nicht zu befreien. In ihren Ohren dröhnte das Rattern der Räder, ein eisernes Krachen, das im immer selben Rhythmus über die Schienen sprang und sich in ihren Schädel bohrte. Jäh schob sie das Fenster wieder zu und setzte sich auf die Holzbank.
    Die Nacht huschte vorüber. Hier und da ein Licht, ein kleines Dorf, dann wieder das dunkle Tuch, das sich über die Landschaft zog und auf Carlas Seele legte. Tränen der Wut und Verzweiflung drängten aus ihren Augen, gepaart mit einem untergründigen Schamgefühl. Ihre Wangen brannten.
    Warum? Warum? Ihr brach der Schweiß aus. Das Abteil schwankte. Wo waren die Decke, der Boden, die Wand? Alles drehte sich. Sie zwang sich durchzuatmen, krallte ihre Hände ineinander, bis sie schmerzten. Nie mehr zurückblicken. Alle

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