Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
schon auf ihn wartete, ein Zeichen. Beim Hinausgehen fiel ihm noch etwas ein, er wandte sich an Lucas:
»Schau mal oben im Vorstrafenregister nach, ob du etwas auf den Namen Millard findest.«
»Mach ich, Chef. Soll ich Sie irgendwo anrufen?«
»Nein. Ich weiß noch nicht genau, wohin ich fahre. Ein bisschen weiter als Chelles, irgendwo ans Ufer der Marne. Wenn du mir etwas Dringendes mitzuteilen hast, erkundige dich bei der Gendarmerie in Chelles nach dem Namen eines Gasthauses, zwei Kilometer flussaufwärts.«
Janvier setzte sich ans Steuer des kleinen schwarzen Autos, denn Maigret hatte nie den Führerschein machen wollen.
»Gibt’s was Neues, Chef?«
»Ja.«
Der Inspektor traute sich nicht, weiterzufragen, und nach einem langen Schweigen fuhr der Kommissar schließlich mürrisch fort:
»Nur weiß ich noch nicht genau, was.«
Er war sich nicht sicher, ob sie so schnell dort auftauchen sollten. Aber er wollte es nicht zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber.
»Kennst du die Strecke?«
»Ich habe da manchmal sonntags mit meiner Frau und den Kindern zu Mittag gegessen.«
Sie ließen die Vororte hinter sich, sahen die ersten Wiesen und Felder und fuhren über Land. In Chelles hielten sie unschlüssig an einer Kreuzung an.
»Wenn es flussaufwärts ist, müssen wir rechts abbiegen.«
»Probier es aus.«
Sie hatten Chelles kaum verlassen, als sie von einem Streifenwagen mit heulendem Martinshorn überholt wurden; Janvier sah Maigret wortlos an.
Auch der Kommissar schwieg. Ein ganzes Stück weiter knurrte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen:
»Ich fürchte, es ist schon passiert.«
Denn der Streifenwagen fuhr in Richtung Marne, die man allmählich zwischen den Bäumen erkennen konnte. Rechts erhob sich ein Gasthaus mit gelbgestrichenen Ziegeln. Vor der Tür stand eine Frau, die sehr erregt zu sein schien.
Die Polizeistreife konnte nicht weiterfahren und war am Wegrand stehen geblieben. Maigret und Janvier stiegen aus. Die Frau gestikulierte und rief ihnen etwas zu, aber sie konnten es nicht verstehen.
Sie gingen zu der Hütte hinüber, um die herum es von Gänsen und Enten wimmelte. Die Polizisten, die vor ihnen dort eingetroffen waren, befragten zwei Männer, die anscheinend auf sie gewartet hatten. Der eine war Lapointe. Der andere sah von weitem aus wie Gaston Meurant.
Es waren drei Polizisten, darunter ein Hauptwachtmeister. Eine alte Frau betrachtete von der Türschwelle aus kopfschüttelnd die vielen Leute und schien nicht recht zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Niemand schien das im Übrigen zu begreifen, außer vielleicht Meurant und Lapointe.
Unwillkürlich hielt Maigret nach einer Leiche Ausschau, konnte aber nichts entdecken.
Lapointe sagte zu ihm:
»Im Wasser …«
Doch auch im Wasser war nichts zu sehen.
Was Gaston Meurant betraf, so wirkte er ruhig, beinahe fröhlich, und als der Kommissar sich endlich entschloss, ihm in die Augen zu sehen, war es, als ob der Rahmenmacher sich wortlos bei ihm bedankte.
Lapointe sagte zu seinem Chef und zu den Polizeibeamten:
»Der Mann hat aufgehört zu angeln und sein Boot von den Pflöcken losgebunden, die Sie da unten sehen.«
»Wer ist es?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er war mit einer groben Leinenhose und einem Marinepullover mit Rollkragen bekleidet. Er ist losgerudert, um quer durch die Strömung ans Ufer zu kommen.«
»Wo waren Sie da?«, fragte der Hauptwachtmeister.
»Im Gasthaus. Ich habe die Szene vom Fenster aus beobachtet. Ich hatte gerade mit Kommissar Maigret telefoniert.«
Er deutete auf seinen Chef, und der Polizist ging verlegen auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich hatte so wenig damit gerechnet, Sie hier zu sehen, dass ich Sie nicht erkannt habe. Der Inspektor hat uns durch die Wirtin rufen lassen, die uns nur gesagt hat, dass gerade ein Mann getötet worden und ins Wasser gefallen ist. Ich habe sofort die Kriminalpolizei benachrichtigt …«
Sie hörten, wie Autos am Gasthof hielten.
»Da sind sie!«
Die Neuankömmlinge trugen noch mehr zur allgemeinen Verwirrung und Verständnislosigkeit bei. Da sie sich im Département Seine-et-Marne befanden, war Maigret nicht berechtigt, sich in die Ermittlung einzumischen.
Dennoch wandten sich alle an den Kommissar.
»Sollten wir ihm nicht Handschellen anlegen?«
»Das müssen Sie entscheiden, Herr Hauptwachtmeister. Ich selbst halte es nicht für notwendig.«
Die fieberhafte Anspannung war von Meurant abgefallen. Er
Weitere Kostenlose Bücher