Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
Lage, der Staatsanwaltschaft irgendeine konkrete Angabe zu machen. Seit zwei Tagen tappte er gewissermaßen im Dunkeln, aber genau wie Gaston Meurant hatte er trotz alledem das Gefühl, dass sich da etwas abzeichnete.
Er wäre am liebsten gleich zum Bahnhof gefahren, um den Bilderrahmer abzuholen. Aber war es nicht besser, wenn er im Hintergrund blieb und von dort aus die Fäden zusammenhielt? Und lief er nicht Gefahr, alles zu vermasseln, wenn er die Verfolgung Gaston Meurants auf den Straßen übernahm?
Er beauftragte Lapointe damit, weil er wusste, dass es ihm Spaß machen würde, und außerdem einen anderen Inspektor, Neveu, der sich mit dem Fall bislang gar nicht befasst hatte. Zehn Jahre lang hatte Neveu im Außendienst gearbeitet und sich auf Taschendiebstähle spezialisiert.
Lapointe fuhr zum Bahnhof, ohne zu wissen, dass Neveu ihm bald nachkommen würde.
Vorher musste Maigret ihm noch genaue Anweisungen erteilen.
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Gaston Meurant war rothaarig, hellhäutig, hatte blaue Augen und einen sanftmütigen Gesichtsausdruck und war sicher jahrelang ein schüchterner, vor allem aber geduldiger Mensch gewesen, der sich beharrlich bemüht hatte, inmitten der drei Millionen Menschen in Paris eine glückliche Existenz aufzubauen, die seinen Vorstellungen entsprach.
Er hatte sein Handwerk gewissenhaft erlernt, ein schwieriges Handwerk, das Geschmack und Fingerspitzengefühl erforderte, und man konnte annehmen, dass er an dem Tag, da er sich, wenn auch nur hinten in einem Hof, selbständig gemacht hatte, die Genugtuung empfunden hatte, die größte Hürde gemeistert zu haben.
Hatte er sich so lange von den Frauen ferngehalten, weil er zu schüchtern war, zu vorsichtig oder einfach Angst hatte, enttäuscht zu werden?
Im Verlauf der Verhöre hatte er Maigret gestanden, dass er sich vor seiner Begegnung mit Ginette auf ein paar wenige flüchtige, auf ein Minimum reduzierte Kontakte beschränkt hatte. Sie erschienen ihm verwerflich, bis auf ein Liebesverhältnis, das er als Achtzehnjähriger mit einer wesentlich älteren Frau gehabt hatte und das nur wenige Wochen dauerte.
An dem Tag, als er endlich einer Frau einen Heiratsantrag gemacht hatte, wobei ihm die Schamröte im Gesicht stand, war er weit über dreißig, und das Schicksal wollte es, dass diese Frau ihm wenige Monate später gestehen musste, dass sie unfruchtbar war. Dabei hatte er sehnlichst darauf gewartet, sie möge ihm die baldige Geburt eines Kindes ankündigen.
Er hatte sich nicht darüber aufgeregt. Er hatte es hingenommen, wie er es hinnahm, dass sie so anders war als die Frau, die er sich erträumt hatte.
Trotzdem waren sie ein Paar. Er war nicht mehr allein, selbst wenn das Licht nicht immer brannte, wenn er abends nach Hause kam, so dass oft er das Abendessen zubereiten musste und sie sich anschließend schweigend gegenübersaßen.
Sie träumte von einem Leben inmitten des regen Trubels eines Restaurants, in dem sie die Wirtin war, und er hatte nachgegeben, ohne Illusionen und in dem vollen Bewusstsein, dass das Experiment von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Dann war er wieder in seine Werkstatt und zu seinen Bilderrahmen zurückgekehrt, ohne darüber verbittert zu sein, und hatte hin und wieder seine Tante um finanzielle Unterstützung bitten müssen.
Während all dieser Jahre des gemeinsamen Zusammenlebens hatte er sich genauso wie in den vorangegangenen Jahren niemals zornig oder ungeduldig gezeigt.
Er ging mit stiller Beharrlichkeit seinen Weg, wenn es sein musste mit gesenktem Kopf, den er wieder aufrichtete, sobald das Schicksal ihm wieder zu lächeln schien.
Er hatte eine kleine Welt um seine Liebe herum konstruiert, und daran klammerte er sich mit aller Kraft.
Erklärte das nicht den Hass, der seinen Blick mit einem Mal verhärtet hatte, als Maigret vor dem Schwurgericht aussagte und ein anderes Bild malte, als Meurant es sich von seiner Frau gemacht hatte?
Nachdem er gewissermaßen gegen seinen Willen freigesprochen worden und vom Tatverdacht befreit war, der nun auf seiner Frau lastete, hatte er trotz allem zusammen mit seiner Frau den Palais de Justice verlassen; ohne sich unterzuhaken, waren sie zusammen in ihre Wohnung am Boulevard de Charonne zurückgekehrt.
Er hatte jedoch nicht in ihrem gemeinsamen Bett geschlafen. Zweimal, dreimal war sie zu ihm gekommen, um mit ihm zu reden, vielleicht hatte sie sich bemüht, ihn zu sich zu locken, aber dann hatte sie doch allein geschlafen, während er den größten Teil der
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