Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
… Ich hatte mir schon hundertmal vorgenommen, mich von ihm zu trennen, und es dann doch nicht getan … Ich weiß nicht, warum … Sehen Sie …«
Er suchte nach Worten. Man spürte, dass er so genau wie nur möglich sein wollte, dass er aber Mühe hatte.
»In Paris habe ich am Anfang gehungert, und wie so viele andere habe ich in den Markthallen Gemüse abgeladen. Ich habe die Stellenanzeigen gelesen und bin sofort hingegangen, wenn irgendwo eine Stelle frei war. So bin ich zu der Versicherungsgesellschaft gekommen …«
»Hatten Sie Freundinnen?«
»Nein … Ich habe mich mit Straßenmädchen begnügt … Als einmal eine versucht hat, sich einen zusätzlichen Schein aus meinem Geldbeutel zu holen, war ich drauf und dran, mein Messer zu ziehen … Mir stand der Schweiß auf der Stirn … Ich bin dann torkelnd weggegangen …
Mir wurde klar, dass ich nicht heiraten durfte …«
»Hätten Sie es gern getan?«
»Haben Sie einmal allein in Paris gelebt, ohne Familie,. ohne Freunde, und sind Abend für Abend allein in die leere Wohnung gekommen?«
»Ja.«
»Dann verstehen Sie mich wohl … Freunde wollte ich auch keine, denn ich konnte ihnen gegenüber nicht ehrlich sein, wenn ich nicht den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen wollte …
Ich bin in die Stadtbücherei gegangen und habe dort sämtliche Psychiatriehandbücher verschlungen, immer auf der Suche nach einer Erklärung … Aber wahrscheinlich fehlten mir die Grundkenntnisse … Jedes Mal, wenn ich dachte, dass mein Fall einer bestimmten Geisteskrankheit entsprechen könnte, stellte ich wenig später fest, dass ich irgendeines der Symptome nicht hatte …
Ich habe immer mehr Angst bekommen …
Ich bringe ihn um …
Schließlich lauerte ich nur noch darauf, dass mir dieser Satz wieder über die Lippen kam. Und wenn es passiert ist, bin ich nach Hause gerannt, habe mich eingeschlossen und aufs Bett geworfen. Ich muss dabei gestöhnt haben.
Einmal hat nämlich ein Nachbar, ein älterer Mann, bei mir geklopft. Ich habe reflexartig das Messer gezogen.
›Wer ist da?‹, habe ich durch die Tür hindurch gefragt.
›Ist alles in Ordnung? Sind Sie krank? Ich glaubte Sie stöhnen zu hören … Entschuldigen Sie.‹
Dann ist er wieder gegangen …«
8
Madame Maigret schaute zur Tür herein und machte ein Zeichen, das der Kommissar nicht verstand, weil er wie in einer anderen Welt war. Schließlich flüsterte sie ihm zu:
»Kannst du mal kommen?«
In der Küche fuhr sie im Flüsterton fort:
»Das Abendessen ist fertig. Es ist schon nach acht. Was machen wir jetzt?«
»Irgendwie müssen wir essen.«
»Wie meinst du das?«
»Wir sind noch nicht am Ende …«
»Könnte er nicht mit uns essen?«
Er sah sie verblüfft an. Einen Augenblick lang schien ihm der Vorschlag auch ganz natürlich. Dann besann er sich doch anders:
»Nein … Kein gedeckter Tisch, kein familiäres Abendessen. Es würde ihn in fürchterliche Verwirrung stürzen. Hast du nicht etwas Aufschnitt und Käse da?«
»Doch.«
»Dann mach ein paar belegte Brote, und bring sie uns mit einer Flasche Weißwein.«
»Wie ist er?«
»Ruhiger und klarer, als ich befürchtet hatte. Ich verstehe jetzt, warum er sich den ganzen Tag nicht gemeldet hat. Er hat Abstand gebraucht.«
»Abstand wovon?«
»Von sich selbst … Hast du mitgehört?«
»Nein.«
»Mit vierzehneinhalb hat er ein Kind getötet …«
Als Maigret ins Wohnzimmer zurückkam, murmelte Robert Bureau verlegen:
»Sie möchten wahrscheinlich zu Abend essen, nicht wahr?«
»Wenn wir am Quai des Orfèvres wären, würde ich jetzt Sandwiches und Bier heraufbringen lassen. Es gibt keinen Grund, hier nicht dasselbe zu tun. Meine Frau macht gerade Sandwiches und bringt sie uns gleich mit einer Flasche Weißwein.«
»Wenn ich gewusst hätte …«
»Wenn Sie was gewusst hätten?«
»Dass es jemanden gibt, der mich versteht … Sie sind sicher eine Ausnahme … Der Untersuchungsrichter wird nicht so sein, die Geschworenen ebenfalls nicht … Ich habe mein ganzes Leben lang immer Angst gehabt, Angst davor, wieder zuzustechen, ohne es zu wollen …
Ich habe mich sozusagen ununterbrochen beobachtet, immer in der Angst vor einem neuen Anfall. Beim geringsten Kopfweh zum Beispiel …
Ich weiß nicht mehr, wie viele Ärzte ich aufgesucht habe. Ich habe ihnen natürlich nicht die Wahrheit gesagt, sondern über heftige Kopfschmerzen mit kalten Schweißausbrüchen geklagt. Die meisten haben das nicht ernst genommen und mir Aspirin
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