Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
empfohlen.
Ein Nervenarzt am Boulevard Saint-Germain hat ein EEG gemacht. Angeblich ohne Befund …«
»Ist das lange her?«
»Zwei Jahre. Am liebsten hätte ich ihm direkt gesagt, ich sei nicht normal, ich sei krank … Weil er nicht selbst darauf gekommen ist.
Manchmal, wenn ich an einem Polizeiposten vorbeikam, hatte ich die größte Lust, hineinzugehen und zu sagen:
›Ich habe einen Menschen umgebracht, als ich vierzehneinhalb war. Ich spüre, dass ich wieder töten könnte. So etwas muss doch heilbar sein. Sperren Sie mich ein, lassen Sie mich psychiatrisch behandeln.‹«
»Und warum haben Sie es nicht getan?«
»Weil ich alle Mordfälle in den Zeitungen verfolge. Bei fast jedem Prozess machen Psychiater Gutachten, und oft wird überhaupt nicht ernst genommen, was sie sagen. Wenn sie von verminderter Zurechnungsfähigkeit oder von geistiger Defizienz reden, nimmt es das Gericht einfach nicht zur Kenntnis. Bestenfalls wird die Strafe von lebenslänglich auf fünfzehn oder zwanzig Jahre herabgesetzt.
Ich wollte es deshalb selbst schaffen, ich wollte die Anfälle kommen sehen und dann schnell nach Hause gehen … Lange Zeit ist mir dies gelungen …«
Madame Maigret brachte ein Tablett mit Sandwiches und eine Flasche Pouilly Fuissé mit zwei Gläsern.
»Guten Appetit!«
Sie zog sich diskret wieder zurück und aß allein in der Küche.
»Greifen Sie zu!«
Der Wein war kühl und trocken.
»Ich weiß nicht, ob ich Hunger habe. An manchen Tagen rühre ich fast nichts an, dann wieder habe ich regelrechten Heißhunger … Vielleicht ist das auch ein Anzeichen … Ich sehe überall Anzeichen, ich analysiere alle meine Reaktionen, hinterfrage jeden Gedanken …
Versuchen Sie mal, sich in mich hineinzuversetzen … Jeden Augenblick kann es mir passieren …«
Er biss in ein Sandwich und war selbst äußerst überrascht, dass er ganz normal aß.
»Wenn ich denke, dass ich mir keineswegs sicher gewesen bin über Sie! Ich hatte zwar in den Zeitungen gelesen, dass Sie menschlich sind und dass Sie dadurch manchmal mit Richtern in Konflikt geraten … Andererseits wurde auch über Ihre Verhörmethode berichtet … Sie geben sich jovial und freundlich, bis die Leute Vertrauen gefasst haben und nicht merken, dass ihnen nach und nach die Würmer aus der Nase gezogen werden …«
Maigret musste lächeln.
»Jeder Fall ist anders …«
»Als ich mit Ihnen telefonierte, habe ich auf jedes Wort von Ihnen genau geachtet, mir jedes Mal überlegt, warum Sie jetzt schweigen.«
»Aber Sie sind trotzdem gekommen …«
»Ich hatte keine andere Wahl mehr, ich spürte, dass ich es nicht mehr aushalten würde … Ich will Ihnen etwas gestehen … Gestern, in der Menschenmenge auf den Grands Boulevards, hatte ich plötzlich den Gedanken, auf den nächstbesten Passanten einzustechen, wild um mich zu schlagen, in der Hoffnung, dass man mich abknallt …
Darf ich mir nachschenken?«
Und mit traurigem Lächeln fügte er hinzu:
»Einen solchen Wein werde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr trinken …«
Einen Moment lang versuchte Maigret, sich das Gesicht des Untersuchungsrichters Poiret vorzustellen, wenn er jetzt hier gewesen wäre.
Bureau fuhr fort:
»Drei Tage lang war dieser sintflutartige Regen … Es wird viel über den Mond geredet, welchen Einfluss er auf Menschen wie mich habe. Ich habe es bei mir beobachtet. Ich habe nicht feststellen können, dass bei Vollmond der Drang öfter gekommen oder stärker gewesen wäre …
Entscheidend war eher eine bestimmte Intensität. Im Juli zum Beispiel, wenn es sehr heiß ist … Oder im Winter, wenn der Schnee in dicken Flocken fällt … Als ob da die Natur auch einen Anfall hätte … Verstehen Sie?
Dieses Gießen, das nicht aufhören wollte, die Regenböen, der Wind, der an den Fensterläden meines Zimmers rüttelte, das alles hat mir die Nerven zum Zerreißen gespannt.
Am Abend habe ich die Wohnung verlassen und bin im Regensturm losgezogen. Nach wenigen Minuten war ich völlig durchnässt, und ich legte absichtlich den Kopf in den Nacken, damit mir der Regen voll ins Gesicht klatschte.
Ich habe das Warnzeichen nicht gehört, vielleicht wollte ich es nicht hören. Ich hätte wieder nach Hause gehen sollen, statt immer weiterzugehen. Ich habe nicht darauf geachtet, wohin ich ging, ich bin einfach weitergegangen, weiter und immer weiter. Irgendwann hat dann meine Hand das Messer in der Tasche umklammert.
In einem kleinen Bistro in einer ziemlich düsteren
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