Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
Monate vorher einem Onkel gestohlen … Ich hatte einen Messerfimmel … Sobald ich ein wenig Geld hatte, habe ich eines gekauft, und das hatte ich dann immer in der Tasche … An einem Sonntag hatte ich bei meinem Onkel dieses Klappmesser gesehen und es eingesteckt … Mein Onkel hat es überall gesucht, auf den Gedanken, ich könnte es genommen haben, ist er nie gekommen …«
»Und wie haben Sie es geschafft, dass weder Ihre Mutter noch sonst jemand es entdeckt hat?«
»Unser Haus war auf der Gartenseite mit wildem Wein bewachsen, der sich an meinem Fenster hochrankte … Wenn ich mein Messer nicht in der Tasche hatte, war es im dichten Weinlaub versteckt …«
»Kam niemand auf den Gedanken, dass Sie es gewesen sein könnten?«
»Darüber habe ich mich auch gewundert. Man hat einen Matrosen festgenommen, ihn aber wieder freilassen müssen … Alle möglichen Leute hat man verdächtigt, an ein Kind hat niemand gedacht.«
»Und wie ging es Ihnen danach?«
»Um ganz ehrlich zu sein, ich hatte keine Gewissensbisse … Ich habe mir den Klatsch auf der Straße angehört, die Zeitungsberichte gelesen, ohne mich davon betroffen zu fühlen.
Ich habe dem Leichenzug zugeschaut, aber es hat mich überhaupt nicht berührt. Für mich war es etwas Vergangenes, etwas, was so hatte kommen müssen … Ich konnte nichts dafür … Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können … Wahrscheinlich kann es niemand verstehen, der es nicht selbst erlebt hat …
Ich bin weiter zur Schule gegangen, aber ich war zerstreut, was sich auch auf meine Noten ausgewirkt hat. Angeblich bin ich ständig bleich gewesen, und meine Mutter ist mit mir zum Arzt gegangen, der mich der Form halber untersucht hat.
›Das ist das Alter, Madame Bureau. Ein bisschen Blutmangel …‹
Ich glaube, ich habe nicht mehr ganz in der Realität gelebt … Ich wollte fliehen … Nicht vor einer möglichen Bestrafung, sondern vor meinen Eltern, aus der Stadt, sehr weit weg, irgendwohin …«
»Möchten Sie nichts trinken?«, fragte Maigret, der selbst großen Durst hatte.
Er schenkte zwei gespritzte Cognac ein und reichte eines der beiden Gläser seinem Besucher, der es in einem Zug leerte.
»Wann ist Ihnen klargeworden, was mit Ihnen passiert war?«
»Sie glauben mir doch, nicht wahr?«
»Ich glaube Ihnen …«
»Ich war immer der Überzeugung, dass mir niemand glauben würde … Es ist ganz unmerklich gekommen … Je mehr Zeit verging, desto mehr fühlte ich mich anders als die anderen Menschen … Ich habe mein Messer in der Tasche gestreichelt und mir gesagt:
›Ich habe jemanden umgebracht … Und niemand weiß es …‹
Ich hatte fast Lust, es allen zu sagen, meinen Mitschülern, meinen Lehrern, meinen Eltern, mich damit zu brüsten … Eines Tages bin ich, ohne es zu wollen, am Kanal einem Mädchen gefolgt … Sie gehörte zu den Flussschiffern und war auf dem Weg zu ihrem Schleppkahn … Es war Winter und schon dunkel …
Ich habe mir gesagt, jetzt müsste ich nur ein paar Schritte schneller gehen und mein Messer aus der Tasche ziehen …
Dann habe ich plötzlich angefangen zu zittern. Ich habe kehrtgemacht und bin Hals über Kopf losgerannt, bis zu den ersten Häusern der Stadt, als hätte ich mich dort sicherer gefühlt …«
»Ist Ihnen das seither noch oft passiert?«
»Sie meinen in der Kindheit?«
»Insgesamt …«
»Zwanzigmal vielleicht … Meistens hatte ich kein bestimmtes Opfer im Auge … Ich war irgendwo draußen und dachte plötzlich:
›Ich bringe ihn um …‹
Manchmal habe ich diese Worte halblaut vor mich hin gesagt, ohne dass eine bestimmte Person damit gemeint war … Einfach irgendwer …
Ich bringe ihn um …
Später erinnerte ich mich, dass ich als Kind leise dasselbe sagte, wenn mein Vater mir eine Ohrfeige gegeben oder mich zur Strafe auf mein Zimmer geschickt hatte:
›Ich bringe ihn um …‹
Damit habe ich gar nicht unbedingt meinen Vater gemeint … Mein Feind war die ganze Menschheit, der Mensch überhaupt …
Ich bringe ihn um …
Darf ich noch einen Cognac haben?«
Maigret schenkte ihm nach und sich selbst auch.
»In welchem Alter sind Sie von Saint-Amand weggegangen?«
»Mit siebzehn … Ich wusste, dass ich das Gymnasium nicht abschließen würde … Mein Vater verstand überhaupt nichts mehr und machte sich Sorgen um mich … Er wollte mich doch in der Druckerei haben … Eines Nachts bin ich einfach abgehauen, mit einem Koffer und meinen wenigen Ersparnissen …«
»Und Ihrem Messer!«
»Ja
Weitere Kostenlose Bücher