Maigret bei den Flamen
…«
Sie war mehr Flämin als ihre Tochter und hatte einen leichten Akzent behalten. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht, und ihre erstaunlich weißen Haare verliehen ihr einen gewissen Adel. Sie setzte sich auf den Rand ihres Stuhls wie eine Frau, die es gewohnt ist, gestört zu we r den.
»Sie müssen hungrig sein, nach der Reise … Ich selbst habe überhaupt keinen Appetit mehr, seit …«
Maigret dachte an den Alten, der in der Küche geblieben war. Warum kam er nicht auch, um ein Stück Torte zu essen? Gerade in diesem Augenblick sagte M a dame Peeters zu ihrer Tochter:
»Bring deinem Vater auch ein Stück …«
Und zu Maigret:
»Er verläßt seinen Sessel fast überhaupt nicht mehr … Er bekommt kaum noch mit, was um ihn herum g e schieht …«
Alles in dieser Atmosphäre war weit von jeder Dramatik entfernt. Man hatte den Eindruck, daß draußen die schlimmsten Ereignisse eintreten konnten, ohne die R u he im Hause der Flamen zu stören, in dem es kein Staubkörnchen gab, keinen Lufthauch und kein anderes Geräusch als das Knistern des Ofens.
Maigret fragte, während er von der mächtigen Reistorte aß:
»An welchem Tag war es genau?«
»Am 3 . Januar. Einem Mittwoch.«
»Heute haben wir den 20 ….«
»Ja, man hat uns nicht sofort beschuldigt.«
»Dieses junge Mädchen – wie hieß sie noch?«
»Germaine Piedbœuf … Sie ist gegen acht Uhr abends gekommen. Sie hat den Laden betreten, und meine Mutter hat sie empfangen.«
»Was wollte sie?«
Madame Peeters schien eine Träne zu unterdrücken.
»Wie immer … Sie beklagte sich, daß Joseph sie nicht besuchen kam, nichts von sich hören ließ … Wo der Junge doch so viel arbeitet! Da gehört schon einiges dazu, Herr Kommissar, trotz allem das Studium fortzuse t zen …«
»Ist sie lange hiergeblieben?«
»Vielleicht fünf Minuten. Ich mußte sie bitten, nicht so zu schreien. Die Schiffer hätten es hören können. Anna ist gekommen und hat ihr gesagt, sie ginge besser nach Hause …«
»Ist sie gegangen?«
»Anna hat sie hinaus geleitet. Ich bin in die Küche zurückgegangen und habe den Tisch abgeräumt …«
»Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Kein einziges Mal!«
»Und keiner aus der Gegend ist ihr je wieder begegnet?«
»Sie sagen alle nein!«
»Hat sie vielleicht mit Selbstmord gedroht?«
»Nein! Solche Frauen wie sie bringen sich nicht um … Noch ein bißchen Kaffee? Ein Stück Torte? Anna hat sie gebacken …«
Ein weiteres Detail, das sich dem Bild Annas hinzufügte. Sie saß still und zufrieden auf ihrem Stuhl und beobachtete den Kommissar, als wenn die Rollen ve r tauscht worden wären: als gehörte sie zum Quai des O r fèvres und er zu dem Haus der Flamen.
»Wissen Sie noch, was Sie an jenem Abend gemacht haben?«
Es war Anna, die mit einem traurigen Lächeln antwortete:
»Man hat uns darüber so oft verhört, daß wir uns zwangsläufig an die kleinsten Einzelheiten erinnern. Als ich ins Haus zurückkam, bin ich hochgegangen, um aus meinem Zimmer Wolle zum Stricken zu holen. Als ich wieder herunter kam, saß meine Schwester am Klavier, hier im Zimmer, und Marguerite kam gerade herein …«
»Marguerite?«
»Unsere Kusine … Die Tochter von Dr. van de Weert. Sie wohnen hier in Givet. Ich kann es Ihnen auch gleich sagen, Sie erfahren es ja doch: Sie ist die Verlobte von Joseph …«
Madame Peeters erhob sich seufzend, weil die Ladenglocke geläutet hatte. Dann hörte man sie mit beinahe fröhlicher Stimme flämisch sprechen, während sie Bo h nen oder Erbsen abwog.
»Das ist der große Kummer meiner Mutter … Seit langem stand fest, daß Joseph und Marguerite heiraten würden. Sie waren schon mit sechzehn verlobt. Aber J o seph sollte erst sein Studium beenden. Ja, und dann kam dieses Kind dazwischen …«
»Und trotzdem wollten sie heiraten?«
»Nein! Nur – Marguerite wollte keinen anderen. Sie liebten sich immer noch …«
»Wußte Germaine Piedbœuf das?«
»Ja! Aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Josephs Frau zu werden, und sie war so hartnäckig, daß mein Bruder es ihr versprach, um endlich Ruhe zu haben. Die Hochzeit sollte nach dem Examen stattfinden …«
Wieder läutete die Ladenglocke, und Madame Peeters trottete durch die Küche.
»Sie wollten mir erzählen, was Sie am Abend des 3 . Januar gemacht haben …«
»Ja, richtig. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß meine Schwester und Marguerite hier im Zimmer waren, als ich die Treppe herunter kam. Wir haben bis halb
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