Maigret bei den Flamen
entlanggefahren ist, wird gebeten, sich im Lebensmittelgeschäft Peeters zu melden. Hohe Belohnung.
»Ich habe es nicht gewagt, meine Adresse anzugeben, aber …«
Maigret hatte den Eindruck, daß Anna ihre Kusine ein wenig ungehalten ansah, während sie murmelte:
»Das ist ein Gedanke … Aber es wird sich niemand melden.«
Und dabei hatte Marguerite doch so sehr gehofft, beglückwünscht zu werden!
»Wieso? Wenn es diesen Motorradfahrer überhaupt g e geben hat, dann sehe ich nicht ein, warum er sich nicht melden sollte, denn Joseph war es jedenfalls nicht …«
Die Türen standen offen. In der Küche begann der Wasserkessel zu singen. Madame Peeters deckte den Tisch für das Abendessen. Vom Ladeneingang her hörte man Stimmen, und sogleich spitzten die beiden jungen Mädchen die Ohren.
»Bitte treten Sie ein! Ich kann Ihnen zwar nicht viel sagen, aber …«
»Joseph!« stammelte Marguerite und erhob sich.
Ihre Stimme verriet noch mehr Anbetung als Liebe. Marguerite war wie verwandelt und wagte nicht, sich wieder hinzusetzen. Mit angehaltenem Atem blieb sie regungslos stehen, als erwartete sie die Ankunft eines Übermenschen.
Die Stimme ließ sich nun aus der Küche vernehmen:
»Guten Tag, Mutter!«
Und noch eine Stimme, die Maigret nicht kannte:
»Sie werden entschuldigen, Madame, aber ich habe noch einiges zu überprüfen, und da Ihr Sohn gerade vorbeikam …«
Schließlich betraten zwei Männer das Eßzimmer.
Joseph Peeters runzelte kaum wahrnehmbar die Stirn und hauchte mit peinlich sanfter Stimme:
»Guten Tag, Marguerite.«
Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände.
»Bist du nicht zu müde, Joseph? Wie fühlst du dich?«
Anna hingegen blieb gelassen, wandte sich dem anderen Mann zu und deutete auf Maigret.
»Kommissar Maigret, den Sie sicher kennen …«
»Inspektor Machère«, sagte der andere und reichte ihm die Hand. »Stimmt es, daß Sie …«
Aber so konnte man sich nicht unterhalten, im Stehen, zwischen der Tür und dem gedeckten Tisch.
»Ich bin sozusagen nur in halbamtlicher Eigenschaft hier«, brummte Maigret. »Tun Sie bitte so, als wäre ich gar nicht da …«
Anna berührte seinen Arm.
»Mein Bruder Joseph – Kommissar Maigret.«
Joseph streckte ihm eine lange, knochige und kalte Hand entgegen. Er war einen halben Kopf größer als Maigret, der immerhin einen Meter achtzig maß. Aber er war so dürr, daß man glauben konnte, er hätte trotz seiner fünfundzwanzig Jahre noch nicht aufgehört zu wachsen.
Eine schmale, knochige Nase. Müde Augen mit tiefen Ringen darunter . Kurzgeschnittenes, blondes Haar. Offenbar sah er schlecht, denn er zwinkerte unaufhörlich, wie um dem Licht der Lampe zu entfliehen.
»Sehr erfreut, Herr Kommissar. Sie machen mich ve r legen …«
Er war alles andere als elegant. Unter seinem speckigen Regenmantel trug er einen einfallslos geschnittenen, mausgrauen Anzug.
»Ich bin Ihrem Sohn bei der Brücke begegnet«, sagte Inspektor Machère, »und habe ihn gebeten, mir mit dem Motorrad hierher vorauszufahren.«
Dann wandte er sich an Anna. An sie richtete er von nun an das Wort, als wäre sie die Herrin des Hauses. Man sah weder Madame Peeters noch ihren Mann, der zusammengesunken in seinem Korbsessel in der Küche saß.
»Ich nehme an, daß man ohne Schwierigkeiten auf das Dach gelangen kann?«
Alle sahen sich an.
»Durch die Luke im Dachboden«, antwortete Anna. »Wollen Sie …?«
»Ja, ich möchte gern einen Blick dort hinauf werfen.«
Maigret nahm die Gelegenheit wahr, das Haus zu besichtigen. Die Treppe glänzte; der Linoleumbelag der Stufen war so gut gebohnert, daß man aufpassen mußte, um nicht auszurutschen.
In der ersten Etage ein Treppenabsatz mit den Türen zu drei Zimmern. Joseph und Marguerite waren unten geblieben. Anna ging voraus, und der Kommissar bemerkte, daß sie sich leicht in den Hüften wiegte.
»Ich muß Sie sprechen!« flüsterte der Inspektor.
»Gleich!«
Und sie erreichten die zweite Etage. Auf der einen Seite befand sich eine ausgebaute Mansarde, die aber nicht bewohnt wurde. Auf der anderen Seite ein geräumiger Speicher mit unverkleideten Balken und Stapeln von Kisten und Säcken voller Waren. Um die Dachluke zu erreichen, mußte der Inspektor auf zwei übereina n dergestellte Kisten klettern.
»Gibt es hier kein Licht?«
»Ich habe meine Taschenlampe mit …«
Der Inspektor war ein junger Mann, mit rundem Gesicht, jovial und von unermüdlicher Aktivität. Maigret kletterte nicht auf das Dach,
Weitere Kostenlose Bücher