Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
keine achtundvierzig Stunden nach der Tragödie in Saint-Cloud, seine Hand auf Heurtins Schulter gelegt und halblaut gesagt hatte:
»Mach kein Aufhebens! Komm mit, Junge …«
Es war an der Rue Monsieur-le-Prince, in einer bescheidenen Pension, wo Joseph Heurtin ein Zimmer im sechsten Stock bewohnte.
Die Inhaberin hatte von ihm gesagt: »Ein ordentlicher Junge, ruhig, arbeitsam. Nur hatte er hin und wieder so einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht …«
»Bekam er manchmal Besuch?«
»Nein. Und er kam nie nach Mitternacht nach Hause, außer in letzter Zeit …«
»Was war in letzter Zeit?«
»Zwei- oder dreimal kam er später. Einmal … am Mittwoch … hat er mich kurz vor vier Uhr morgens herausklingeln müssen …«
An jenem fraglichen Mittwoch war das Verbrechen in Saint-Cloud verübt worden. Und die Gerichtsmediziner bestätigten, daß der Tod der beiden Frauen etwa um zwei Uhr morgens eingetreten sein mußte.
Außerdem: Lagen nicht handfeste Beweise für Heurtins Schuld vor? Maigret hatte sie ja selbst zusammengetragen.
Die Villa lag an der Straße nach Saint-Germain, nicht ganz einen Kilometer vom ›Pavillon-Bleu‹ entfernt. Um Mitternacht hatte Heurtin dieses Lokal allein betreten und hintereinander vier Gläser Grog geleert. Beim Zahlen war eine Fahrkarte dritter Klasse aus seiner Tasche gefallen: Paris-Saint-Cloud.
Madame Henderson, Witwe eines amerikanischen Diplomaten, der mit der Hochfinanz auf gutem Fuß gestanden hatte, wohnte allein in der Villa, deren Erdgeschoß seit dem Tod ihres Mannes leer stand.
Sie hatte nur eine Angestellte, Elise Chatrier, eher Gesellschafterin als Zofe, eine Französin, die ihre Kindheit in England verbracht und eine hervorragende Erziehung genossen hatte.
Zweimal in der Woche kam ein Gärtner aus Saint-Cloud und sah in dem Park, der die Villa umgab, nach dem Rechten.
Gäste kamen selten. Dann und wann William Crosby, der Neffe der alten Dame, und seine Frau.
In jener Nacht – es war der 7. Juli – herrschte auf der Landstraße nach Deauville der übliche rege Autoverkehr.
Um ein Uhr morgens schlossen das ›Pavillon-Bleu‹ und die übrigen Restaurants oder Dancings ihre Pforten.
Ein Autofahrer sagte in der Folge aus, er hätte gegen halb drei Licht im ersten Stock der Villa gesehen und Schatten, die sich auf eine seltsame Art bewegten.
Um sechs Uhr früh erschien der Gärtner, wie immer am Mittwoch. Er pflegte das Tor so leise wie möglich aufzuschließen, und gegen acht Uhr rief ihn Elise Chatrier jeweils zum Frühstück ins Haus.
An diesem Morgen aber blieb alles still. Um neun waren die Türen der Villa immer noch geschlossen. Beunruhigt klopfte der Gärtner an die Haustür, und da niemand antwortete, lief er zur nächsten Straßenkreuzung, um den Polizisten, der dort Dienst tat, zu benachrichtigen.
Wenig später wurde die Bluttat entdeckt. Die Leiche der alten Dame lag ausgestreckt auf dem Teppich in ihrem Schlafzimmer. Ihr Nachthemd war blutdurchtränkt, die Brust von einem Dutzend Messerstichen durchbohrt.
Elise Chatrier hatte dasselbe Schicksal erlitten. Sie lag im angrenzenden Zimmer, wo sie auf Madame Hendersons Wunsch schlief, da die alte Dame fürchtete, es könnte ihr in der Nacht plötzlich schlecht werden.
Ein barbarischer Doppelmord. Ein gemeines Verbrechen, wie es in der Polizeisprache heißt, und zwar ein ungemein scheußliches.
Und überall Spuren: Schuhabdrücke, blutige Fingerabdrücke an den Vorhängen …
Es folgten die üblichen Formalitäten: Lokaltermin, Ankunft der Experten vom polizeilichen Erkennungsdienst, vielfache Analysen, Autopsien …
Maigret wurde mit der polizeilichen Untersuchung betraut, und er brauchte keine zwei Tage, um auf die Spur von Heurtin zu kommen.
Sie war unübersehbar! In den Korridoren der Villa lagen keine Teppiche, das Parkett war frisch gewachst.
Ein paar Aufnahmen genügten, um Schuhabdrücke von auffallender Deutlichkeit auf den Film zu bannen: Es handelte sich um nagelneue Schuhe mit Gummisohlen, die, um auch bei Regen rutschfest zu sein, prägnante Rillen hatten. Und in der Mitte konnte man noch den Namen des Herstellers sowie eine Bestellnummer lesen.
Wenige Stunden später betrat Maigret ein Schuhgeschäft am Boulevard Raspail, wo er erfuhr, daß im Lauf der letzten zwei Wochen ein einziges Paar Schuhe dieser Art und Größe – es war Größe 44 – verkauft worden war.
»Und zwar an einen Laufburschen. Er kam mit seinem Dreirad-Lieferwagen. Wir sehen ihn oft hier im Viertel
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