Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
anzuschwindeln versucht.
Danach hat er von sich aus die verbliebenen Lücken ausgefüllt und nur ein klein bißchen geprahlt dabei …
Jetzt ist er von einer erstaunlichen Ruhe. Er fragte mich, ob ich glaubte, er würde auf dem Schafott enden. Als ich zögerte, fuhr er grinsend fort:
›Tun Sie Ihr möglichstes, Kommissar, damit es dazu kommt. Den kleinen Gefallen sind Sie mir schuldig … Ja, wirklich, das ist eine alte Idee von mir … In Deutschland hab ich mal einer Hinrichtung beigewohnt. Im letzten Moment ist der Verurteilte, der bis zu jener Sekunde nicht mit der Wimper gezuckt hatte, in Tränen ausgebrochen und hat geschrien: Mutter!
Ich bin neugierig, ob auch ich nach meiner Mutter rufen werde. Was glauben Sie?‹«
Im Dienstzimmer wurde es still. Man konnte jetzt die Geräusche im Gerichtsgebäude und den wirren Lärm des Pariser Straßenverkehrs im Hintergrund ganz deutlich hören.
Nach einer Weile stieß der Richter die Akte, die er um des besseren Eindrucks willen zu Beginn der Unterredung aufgeschlagen hatte, von sich.
»Es ist gut, Kommissar«, begann er. »Ich …«
Er blickte an Maigret vorbei. Das Blut stieg ihm in die Wangen.
»Vergessen Sie bitte den … die …«
Doch der Kommissar schlüpfte bereits in seinen Mantel und reichte ihm mit der natürlichsten Miene der Welt die Hand.
»Morgen haben Sie meinen Bericht. Jetzt muß ich zu Moers. Ich hab ihm die zwei Briefe versprochen. Er brennt darauf, sie einer eingehenden graphologischen Prüfung zu unterziehen …«
Er zögerte einen Augenblick, ehe er hinausging, blickte noch einmal zurück, sah die zerknirschte Miene des Richters und verließ den Raum endlich mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, das seine einzige Genugtuung war.
12
Der Sturz
Es war Januar. Alles war gefroren. Die zehn Männer hatten ihre Mantelkragen hochgestellt und ihre Hände in den Taschen vergraben.
Sie wechselten kurze, unzusammenhängende Sätze, während sie auf und ab stampften und dann und wann verstohlen in eine bestimmte Richtung blickten.
Nur Maigret stand abseits, mit eingezogenem Kopf. Sein Gesicht war so düster, daß keiner ihn anzusprechen wagte.
In den umliegenden Gebäuden sah man da und dort ein Fenster aufleuchten, denn der Tag war noch kaum angebrochen. Irgendwo ratterte eine Straßenbahn.
Endlich Motorenlärm, das Knallen einer Wagentür, das Knirschen von schweren Schuhen, ein paar halblaut hingeworfene Befehle.
Ein Zeitungsreporter machte sich mit unbehaglicher Miene Notizen. Ein Mann drehte den Kopf weg.
Radek stieg schwungvoll aus dem Gefängniswagen und sah sich um mit seinen hellen Augen, die in dem grauen Licht glitzerten, als hätten sie die unendliche Weite des Ozeans eingefangen.
Man hielt ihn auf beiden Seiten fest. Es störte ihn nicht. Mit weitausholenden Schritten näherte er sich dem Schafott.
Dann, plötzlich, glitt er auf dem vereisten Pflaster aus. Er fiel hin. Seine Wärter glaubten an eine Finte, beeilten sich, ihn aufzuheben.
Es dauerte nur wenige Sekunden. Aber vielleicht war dieser Sturz schlimmer als alles andere, schlimm vor allem wegen dieses Ausdrucks im Gesicht des Verurteilten, als er sich wieder aufrichtete – beschämt und seiner ganzen Ausstrahlung und Selbstsicherheit beraubt.
Sein Blick fiel auf Maigret. Er hatte ihn gebeten, dazusein, wenn er hingerichtet würde.
Der Kommissar wollte die Augen abwenden.
»Sie sind gekommen …«
Die Ungeduld wuchs. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeder dachte nur noch daran, die nächsten Minuten möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Mit einem sarkastischen Lächeln drehte Radek sich nach dem Glatteis am Boden um, blickte auf, deutete auf das Schafott und sagte spöttisch:
»Verpatzt …!«
Die Männer, die beauftragt waren, seinem Leben ein Ende zu setzen, zögerten fühlbar.
Jemand sagte etwas. Ein Wagen hupte in einer nahen Straße.
Radek bewegte sich als erster. Blindlings schritt er vorwärts.
»Kommissar …«
Noch eine Minute vielleicht, und alles war vorbei. Die Stimme klang merkwürdig.
»Sie gehen wohl gleich nach Hause zu Ihrer Frau, nicht wahr? Sie hat Ihnen Kaffee gemacht …«
Maigret sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Radek hatte recht. Seine Frau wartete im warmen Eßzimmer auf ihn, und sein Frühstück stand auf dem Tisch.
Hinterher wagte er doch nicht, nach Hause zu gehen. Er wußte selbst nicht, warum. Er kehrte geradewegs an den Quai des Orfèvres zurück, füllte den Ofen in seinem Büro mit Kohle auf und
Weitere Kostenlose Bücher