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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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einer Uhr.
    Meine Mutter hatte nicht viel für ihn übrig, eben weil sie merkte, daß etwas bei ihm nicht so war, wie es sein sollte.«
    »Besaß er irgend etwas Persönliches, das er ganz besonders sorgfältig hütete?«
    »Woher wissen Sie …?«
    Sie machte eine kleine, erschrockene Bewegung, fuhr hastiger fort:
    »Einen alten Anzug … Einmal, als ich ihn gerade in einem Karton oben auf dem Kleiderschrank entdeckt hatte und dabei war, ihn auszubürsten, kam Louis heim … Ich hatte sogar die Risse stopfen wollen, denn fürs Haus wäre der Anzug noch gut genug gewesen, aber er war ganz wütend, hat ihn mir aus der Hand gerissen und furchtbar geschimpft. An dem Abend hätte man meinen können, er hasse mich …
    Wir waren damals einen Monat verheiratet. Von da an …«
    Sie seufzte und sah Maigret an, wie um sich für die Schäbigkeit ihrer Geschichte zu entschuldigen.
    »Ist er noch absonderlicher geworden?«
    »Es war ganz sicher nicht seine Schuld! Ich glaube, er war krank. Etwas nagte an ihm … Manchmal, wenn wir eine Stunde lang glücklich gewesen waren, in der Küche, wo wir uns meistens aufhielten, veränderte er sich plötzlich vor meinen Augen … Er sprach kein Wort mehr, sah alles um sich herum – auch mich – mit einem bösen, schiefen Grinsen an und ging dann einfach ins Bett, ohne mir Gute Nacht zu sagen.«
    »Hatte er Freunde?«
    »Nein. Er hat nie Besuch bekommen.«
    »Unternahm er keine Reisen, kam nie irgendwelche Post für ihn?«
    »Nein. Es war ihm sogar unangenehm, Leute daheim bei uns anzutreffen. Zuweilen kam nämlich eine Nachbarin, die selbst keine Nähmaschine besitzt, herüber, um meine zu benutzen; es gab kein besseres Mittel, Louis wütend zu machen …
    Aber es war nicht eine Wut, wie sie sich bei anderen zeigt. Sie schien nach innen gerichtet, und er litt wohl selbst am meisten darunter …!
    Als ich ihm sagte, daß ich ein Kind von ihm erwartete, hat er mich angeguckt, als habe er den Verstand verloren …
    Und von dem Augenblick an – besonders nach der Geburt des Kleinen – hat er zu trinken angefangen; nicht ständig, es waren eher eine Art Anfälle oder Perioden …
    Und trotzdem weiß ich genau, daß er ihn lieb hatte, den Jungen. Denn ab und zu, wenn er ihn ansah, lag in seinem Blick dieselbe zärtliche Verehrung, mit der er mich anfangs angesehen hatte …
    Tags darauf kam er wieder betrunken heim, schloß sich im Schlafzimmer ein und blieb Stunden, manchmal gar ganze Tage im Bett.
    Zuerst hat er mich noch weinend um Verzeihung gebeten … Vielleicht hätte ich es geschafft, ihn zu halten, wenn Mutter sich nicht eingemischt hätte, aber sie hat ihm Vorwürfe gemacht, und dann gab es Auseinandersetzungen …
    Besonders, wenn Louis zwei, drei Tage nicht zur Arbeit ging …
    Zum Schluß waren wir nur noch unglücklich. Sie können es sich vorstellen, nicht wahr? Er wurde immer bösartiger. Zweimal hat Mutter ihn vor die Tür gesetzt und ihm gesagt, das sei nicht seine Wohnung.
    Aber was mich angeht, so bin ich überzeugt, daß er nichts dafür konnte. Irgend etwas trieb ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen … Hin und wieder geschah es, daß er mich oder unseren Sohn mit diesem Ausdruck ansah, den ich Ihnen beschrieben habe …
    Nur, es geschah immer seltener. Es hielt nicht lange an. Der letzte Auftritt war abscheulich. Mutter war dabei. Louis hatte sich Geld aus der Ladenkasse genommen, und sie hat ihn einen Dieb geschimpft … Totenblaß hat er dagestanden mit blutunterlaufenen Augen, wie an seinen schlimmen Tagen, und hat uns wie ein Irrer angeglotzt.
    Ich sehe ihn immer noch auf mich zukommen, als wolle er mich erwürgen, und in der Verzweiflung habe ich ›Louis‹ geschrieen.
    Er ist fortgegangen, hat die Tür so heftig hinter sich zugeschlagen, daß die Scheibe herausgefallen ist.
    Das war vor zwei Jahren. Ab und zu haben Nachbarinnen ihn noch in der Umgebung gesehen. Ich habe mich bei seiner Fabrik in Belleville nach ihm erkundigt und gehört, daß er nicht mehr dort arbeitete.
    Aber jemand hat ihn in der Rue de la Roquette, in einer kleinen Werkstatt, die Bierabfüllmaschinen herstellt, gesehen.
    Ich selbst hab ihn nur einmal wiedergesehen, vor etwa sechs Monaten, durchs Schaufenster. Mama, die jetzt wieder mit mir und dem Kleinen zusammenwohnt, war gerade im Laden. Sie hat mich nicht zur Tür laufen lassen …
    Sie geben mir doch Ihr Wort, daß er nicht gelitten hat, daß er sofort tot war? … Er war ein unglücklicher Mensch, meinen Sie nicht auch? Sie müssen

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