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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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das jetzt doch verstehen …«
    Sie hatte ihre Erzählung mit einer solchen Intensität nacherlebt und dazu so stark unter dem Einfluß ihres Mannes gestanden, daß sie unbewußt beim Sprechen jeden der von ihr beschriebenen Gesichtsausdrücke wiedergegeben hatte.
    Und wieder war Maigret verblüfft über die beunruhigende Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und dem Mann, der in Bremen mit den Fingern geschnalzt hatte, bevor er sich eine Kugel durch den Kopf jagte.
    Und mehr noch, das verzehrende Fieber, das sie ihm beschrieben hatte, schien von ihr selber Besitz ergriffen zu haben. Auch jetzt noch, wo sie schwieg, hörten ihre Nerven nicht auf zu zittern, ihr Atem ging heftig; sie schien darauf zu warten, daß etwas geschah, ohne zu wissen, was es sein würde.
    »Hat er nie über seine Vergangenheit oder seine Kindheit gesprochen?«
    »Nein. Er war nicht sehr gesprächig. Ich weiß nur, daß er in Aubervilliers geboren ist … Ich hab auch von Anfang an den Eindruck gehabt, daß er eine bessere Schulbildung genossen hatte, als seine Stellung vermuten ließ. Er hatte eine schöne Handschrift und kannte die lateinischen Namen aller Pflanzen. Die Besitzerin der Kurzwarenhandlung nebenan ist immer zu ihm gekommen, wenn sie einen komplizierten Brief schreiben mußte.«
    »Und Sie haben seine Familie nie kennengelernt?«
    »Vor der Hochzeit hat er mir gesagt, er sei Waise … Ich möchte Sie noch etwas fragen, Herr Kommissar: Wird man ihn nach Frankreich überführen?«
    Und als er nicht gleich antwortete, fügte sie mit abgewandtem Gesicht, um ihre Verlegenheit zu verbergen, hinzu:
    »Die Kräuterhandlung gehört jetzt meiner Mutter … und das Geld! … Ich weiß, sie wird nicht für die Überführung der Leiche aufkommen wollen und mir auch das Reisegeld nicht geben, damit ich ihn noch einmal anschauen kann. Gibt es in so einem Fall wohl …«
    Die Stimme versagte ihr; sie bückte sich hastig, um das Taschentuch, das ihr heruntergefallen war, aufzuheben.
    »Ich werde für die Überführung Ihres Mannes sorgen, Madame.«
    Sie dankte ihm mit einem rührenden Lächeln und wischte eine Träne fort.
    »Ich merke, daß Sie verstanden haben und so wie ich denken, Herr Kommissar. Es war nicht seine Schuld – er war bloß unglücklich …«
    »Verfügte er über größere Geldsummen?«
    »Er hatte nur seinen Lohn. Zu Anfang gab er mir jeden Pfennig, aber dann, als er zu trinken begann …«
    Wieder das schwache Lächeln, sehr traurig diesmal und doch voller Mitgefühl.
    Sie hatte sich etwas beruhigt, als sie hinausging, den schmalen Pelzstreifen mit einer Hand fest an den Hals gepreßt, während die Linke immer noch die Handtasche und die eng zusammengefaltete Zeitung hielt.
     
    Die Nummer achtzehn in der Rue de la Roquette war, wie Maigret feststellte, ein Hotel letzter Güteklasse.
    Keine fünfzig Meter weiter lag schon die Place de la Bastille und in sie mündend auch die für ihre Tanzlokale und Spelunken bekannte Rue de Lappe.
    Hier ist jedes Erdgeschoß eine Kneipe und jedes Haus ein Hotel, umlungert von Strolchen, gewohnheitsmäßigen Nichtstuern, Emigranten und Dirnen.
    Inmitten dieses abenteuerlich anmutenden Schlupfwinkels der Unterwelt gibt es aber auch eine kleine Anzahl Werkstätten, in denen bei offenen Türen gehämmert und geschweißt wird, während draußen auf der Straße schwere Laster hin- und herrollen.
    Das emsige Treiben, die Arbeiter, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen, die Büroangestellten, die geschäftig ihre Frachtbriefe schwenken, bilden jedoch einen schreienden Kontrast zu den dort herumstrolchenden verkommenen oder dreisten Gestalten.
    »Jeunet!« brummte der Kommissar, als er die Tür des Hotelempfangs im ersten Stock aufstieß.
    »Nicht da!«
    »Hat er sein Zimmer noch?«
    Man witterte die Polizei, antwortete mürrisch.
    »Ja, Nummer neunzehn.«
    »Wie zahlt er, wöchentlich? Monatlich?«
    »Monatlich.«
    »Haben Sie Post für ihn?«
    Man versuchte es zuerst mit Tricks, händigte Maigret dann schließlich das Päckchen doch aus, das Jeunet sich selbst aus Brüssel gesandt hatte.
    »Erhielt er dergleichen öfter?«
    »Gelegentlich …«
    »Irgendwelche andere Post?«
    »Nein. Insgesamt sind vielleicht drei Päckchen gekommen. Ein ruhiger Mensch … Ich möchte wissen, warum die Polizei ihn schikaniert …«
    »Hat er gearbeitet?«
    »Ja, in dieser Straße, Nummer fünfundsechzig.«
    »Eine feste Stellung?«
    »Je nachdem … mal ein paar Wochen und dann wieder nicht …«
    Maigret ließ

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