Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
sich den Zimmerschlüssel geben, aber er entdeckte nichts außer einem Paar ausgedienter Schuhe, deren Sohle sich ganz vom Oberleder gelöst hatte, einem leeren Aspirinröhrchen und einem in eine Ecke geschleuderten Monteursanzug.
Er ging hinab und nahm sich den Hotelier abermals vor. Dabei erfuhr er, daß Louis Jeunet weder Besuch empfangen noch Umgang mit Frauen gepflegt hatte. Von einigen drei- oder viertägigen Reisen abgesehen, hatte er ein recht eintöniges Dasein geführt.
Doch es gibt keinen Menschen, der in dieser Art Hotel absteigt, in dieser Art Stadtviertel wohnt und nicht irgend etwas zu verbergen hat. Das wußte der Hotelier ebensogut wie Maigret. Er gab denn auch knurrend zu:
»Es ist nicht das, was Sie denken. Bei ihm war’s der Alkohol; und zudem bloß hin und wieder mal, wenn’s über ihn kam, wenn er seinen Koller kriegte, wie meine Frau und ich das nannten. Er konnte drei Wochen lang völlig solide sein, täglich zur Arbeit gehen, dann folgte eine Periode, in der er sich bis zur Bewußtlosigkeit betrank.«
»Und sonst war nichts Verdächtiges an seinem Verhalten?«
Der Mann zuckte mit den Achseln, wie um auszudrücken, daß er es in seinem Hotel nur mit Leuten zu tun habe, die sich in irgendeiner Form verdächtig verhielten.
Nummer fünfundsechzig war eine riesige, zur Straße hin offene Werkstatt, in der Maschinen zum Abfüllen von Bier hergestellt wurden. Ein Werkmeister, der das Bild Jeunets in der Zeitung gesehen hatte, empfing Maigret.
»Ich wollte schon an die Polizei schreiben«, sagte er. »Letzte Woche hat er noch hier gearbeitet. Acht Francs fünfzig die Stunde hat der Bursche verdient!«
»Wenn er überhaupt arbeitete!«
»Sie wissen also Bescheid … Wenn er überhaupt arbeitete! Es gibt ne ganze Menge von der Sorte, bloß daß die sich meist regelmäßig einen über den Durst genehmigen oder sich am Samstag ordentlich vollaufen lassen … Bei ihm kam das ganz plötzlich, war nicht vorauszusehen, aber dann soff er pausenlos eine Woche lang. Einmal, als wir eine dringende Arbeit zu erledigen hatten, bin ich zu ihm auf sein Zimmer gegangen … Und was soll ich Ihnen sagen? Der lag da und soff, ganz allein, mit der Flasche neben dem Bett … Ich kann Ihnen versichern, es war alles andere als schön anzusehen!«
In Aubervilliers – nichts. Im Geburtenregister war ein Louis Jeunet, Sohn des Tagelöhners Gaston Jeunet und seiner Frau Berthe Marie, geborene Dufoin, Hausangestellte, eingetragen. Gaston Jeunet war vor zehn Jahren gestorben, seine Frau verzogen.
Was Louis Jeunet betraf, so war nur bekannt, daß er vor sechs Jahren von Paris aus eine Geburtsurkunde angefordert hatte.
Das änderte nichts an der Tatsache, daß der Paß falsch war, daß der Mann, der in Bremen Selbstmord verübt hatte, nachdem er die Kräuterhändlerin aus der Rue Picpus geheiratet hatte und Vater eines Sohnes geworden war, nicht der echte Jeunet war!
Auch das Strafregister der Polizei ergab nichts; keine Eintragung unter dem Namen Jeunet, keinerlei Fingerabdrücke, die mit denen des Toten in Deutschland identisch gewesen wären.
Also hatte der Selbstmörder nie etwas mit den Justizbehörden zu tun gehabt, weder in Frankreich noch im Ausland, denn auch die von den meisten europäischen Ländern durchgegebenen Fahndungsberichte waren daraufhin geprüft worden.
Die Spur ließ sich nicht weiter als sechs Jahre zurückverfolgen. Damals hatte ein Louis Jeunet als Fraser gearbeitet und ein ordentliches Leben geführt.
Er hatte geheiratet und war schon zu diesem Zeitpunkt im Besitz des Anzugs B gewesen, der Anlaß zu der ersten Auseinandersetzung mit seiner Frau gegeben hatte und einige Jahre später die Ursache seines Todes werden sollte.
Er besaß keine Freunde, erhielt keine Post. Er schien Latein gelernt zu haben, was auf eine überdurchschnittliche Schulbildung hinwies.
In seinem Büro verfaßte Maigret ein Schreiben an die deutsche Polizei, in dem er die Leiche anforderte, und erledigte einige laufende Arbeiten. Dann öffnete er mit einem grimmigen, angewiderten Gesichtsausdruck abermals den Koffer, dessen Inhalt der Bremer Sachverständige so sorgfältig etikettiert hatte.
Er legte das Päckchen mit den dreißig belgischen Banknoten dazu, wobei ihm plötzlich die Idee kam, die Schnur zu lösen und die Nummern der Scheine zu notieren. Die Liste schickte er der Brüsseler Sûreté mit der Bitte, die Herkunft der Banknoten zu ermitteln.
Er tat all dies auf eine so schwerfällige Art und mit
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