Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
mehr notwendig, denn durch Zufall begegneten wir einem Schoner, der zu den Lofoten-Inseln fuhr.
Ich ging mit Joris auf dieses Schiff. Auf dem Meer waren wir sicherer als an Land.
Wir blieben acht Tage, denn auch dort begannen sich die Leute zu fragen, wer dieser mysteriöse Gast war.
Wir mußten weiter … Kopenhagen … Hamburg. Joris ging es besser. Die Wunde war vernarbt, aber er hatte Gedächtnis und Sprache verloren.
Was konnte ich mit ihm tun, sagen Sie? Waren die Chancen, sein Gedächtnis wiederzuerlangen, nicht größer für ihn, wenn er daheim war, in einer vertrauten Umgebung, als wenn er durch die Welt reiste?
Ich wollte wenigstens für seine materielle Sicherheit sorgen. Ich schickte dreihunderttausend Francs an seine Bank und unterzeichnete mit seinem Namen …
Nun mußte er nur noch zurückgebracht werden. Es war zu riskant für mich, ihn selbst herzubringen. Aber wenn ich ihn einfach in Paris zurückließ, würde er nicht unweigerlich bei der Polizei landen, die ihn schließlich identifizieren und heimbringen würde?
Und so ist es gekommen. Nur eines konnte ich nicht voraussehen: Daß mein Vetter aus Angst, Joris könnte ihn anzeigen, ihn feige umbringen würde.
Er nämlich hat das Strychnin in das Wasserglas getan! Er brauchte nur von hinten in das Haus zu gehen, als er auf Entenjagd war …«
»Und da haben Sie den Kampf wieder aufgenommen«, sagte Maigret langsam.
»Ich konnte nicht mehr anders handeln! Ich wollte meinen Sohn. Aber der andere war auf der Hut! Der Junge war ins Stanislas zurückgekehrt, und dort hätte man sich geweigert, ihn mir anzuvertrauen.«
All das wußte Maigret. Und wenn er jetzt diese ihm vertraut gewordene Umgebung betrachtete, verstand er die Bedeutung des Kampfes besser, der zwischen den beiden Männern stattgefunden hatte, ohne daß jemand etwas davon wußte.
Nicht nur ein Kampf zwischen diesen zweien! Sondern auch ein Kampf gegen ihn, Maigret!
Die Polizei durfte auf keinen Fall einschreiten! Weder der eine noch der andere konnte und durfte die Wahrheit sagen!
»Ich bin mit der ›Saint-Michel‹ gekommen …«
»Ich weiß. Und Sie haben Grand-Louis zum Bürgermeister geschickt.«
Unwillkürlich trat ein amüsiertes Lächeln auf Raymonds Lippen, während der Kommissar fortfuhr:
»Einen wildgewordenen Grand-Louis, der sich für all die vorausgegangenen Schwierigkeiten rächte! Er konnte zuschlagen, denn er wußte, daß sein Opfer nie und nimmer zu reden wagen würde! Und er ging mit Herzenslust ans Werk! … Durch die Drohung sollte er erreichen, daß Grandmaison einen Brief schrieb, der Sie ermächtigte, den Jungen aus dem Internat zu holen …«
»Ja. Ich war hinter der Villa, hatte Ihren Inspektor auf den Fersen. Grand-Louis hinterlegte den Brief an einer vereinbarten Stelle, und ich riß meinem Verfolger aus … Ich nahm ein Fahrrad … In Caen kaufte ich ein Auto … Es mußte schnell gehen. Während ich auf der Fahrt zu meinem Sohn war, blieb Grand-Louis beim Bürgermeister, um ihn daran zu hindern, anderslautende Anweisungen zu geben. Vergebliche Müh’ allerdings, denn er hatte dafür gesorgt, daß Hélène den Jungen vor mir abholte …
Sie ließen mich festnehmen …
Der Kampf war aus. Es war nicht mehr möglich, ihn weiterzuführen, da Sie hartnäckig nach der Wahrheit suchten.
Blieb mir nur noch die Flucht. Wären wir dageblieben, so wäre es Ihnen unweigerlich gelungen, alles aufzudecken …
Deshalb das Theater in der vergangenen Nacht. Aber das Pech verfolgte uns. Die ›Saint-Michel‹ lief auf. Es war verdammt schwierig, an Land zu schwimmen, und unglücklicherweise verlor ich dabei auch noch meine Brieftasche.
Kein Geld! Die Gendarmerie hinter uns her! Es blieb mir noch eine Rettung: Hélène anzurufen, sie um ein paar tausend Francs zu bitten, so daß es uns allen vieren möglich war, die Grenze zu erreichen.
In Norwegen hätte ich meine Freunde entschädigen können.
Hélène kam … Aber Sie auch! Sie, der Sie uns ständig eine Nasenlänge voraus waren! Sie, der Sie verbissen kämpften, und dem wir nichts sagen konnten, dem ich aber auch nicht zurufen konnte, daß er Gefahr lief, neue Tragödien heraufzubeschwören!«
Unruhe schlich plötzlich in seine Augen, und er fragte mit veränderter Stimme:
»Hat mein Vetter sich auch wirklich umgebracht?«
Hatte man ihn nicht vielleicht belogen, um ihn zum Reden zu bringen?
»Ja. Er hat sich umgebracht, als er einsah, daß die Wahrheit näherrückte. Und dies wurde ihm klar, als
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