Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Titel: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
Ausbrüche, die die leidenschaftliche Liebe verraten.
    Im Gegenteil, mit starrem Blick und erschöpft am ganzen Körper fragte sie nur:
    »War er es?«
    »Er war es«, bestätigte Maigret.
    Und Schweigen umgab den mächtigen Körper, auf den das kalte Tageslicht fiel. Der Kommissar beobachtete Madame Grandmaison. Er sah, wie sich ihr Blick zur Straße hin wandte, dort gegenüber etwas suchte, und wie ein Schatten der Sehnsucht ihr Gesicht überflog.
    »Erlauben Sie mir, Ihnen zwei oder drei Fragen zu stellen, bevor die Leute kommen?«
    Sie nickte.
    »Haben Sie Raymond schon vor Ihrem Mann gekannt?«
    »Ich wohnte gegenüber.«
    Ein graues, ähnliches Haus wie dieses. Über dem Eingang das goldene Wappen der Notare.
    »Ich liebte Raymond. Er liebte mich. Auch sein Vetter machte mir den Hof, aber auf seine Art.«
    »Zwei sehr verschiedene Männer, nicht wahr?«
    »Ernest war damals schon, wie Sie ihn gekannt haben. Ein kalter, nie junggewesener Mensch. Raymond dagegen hatte einen schlechten Ruf, weil er ein aufregenderes Leben führte, als man es in Kleinstädten gewohnt war. Deshalb und auch, weil er kein Vermögen besaß, zögerte mein Vater, ihm meine Hand zu geben.«
    Irgendwie klangen diese neben einem Toten gemurmelten Geständnisse unheimlich. Sie waren die traurige Bilanz eines Lebens.
    »Waren Sie Raymonds Geliebte?«
    Bejahend schlug sie die Augen nieder.
    »Und dann ist er fort?«
    »Ohne jemandem etwas zu sagen. Eines Nachts. Ich habe es von seinem Vetter erfahren. Fort mit einem Teil des Geldes.«
    »Und Ernest hat Sie geheiratet. Ihr Sohn ist nicht von ihm, nicht wahr?«
    »Es ist Raymonds Sohn. Sehen Sie, als er wegging und mich allein zurückließ, da wußte ich bereits, daß ich ein Kind erwartete. Und Ernest hielt um meine Hand an. Schauen Sie sich die beiden Häuser an, die Straße, die Stadt, in der sich jeder kennt!«
    »Haben Sie Ernest die Wahrheit gesagt?«
    »Ja. Er hat mich trotzdem geheiratet. Das Kind ist in Italien geboren worden, wo ich mich ungefähr ein Jahr aufgehalten habe, damit kein Klatsch aufkam. Ich hielt die Haltung meines Mannes für eine Art Heroismus.«
    »Und?«
    Sie wandte den Kopf ab, weil ihr Blick auf den Leichnam gefallen war. Leise seufzte sie:
    »Ich weiß nicht. Ich glaube schon, daß er mich liebte, auf seine Art eben. Er wollte mich haben, und er hat mich bekommen, können Sie das verstehen? Ein Mann, dem jeder Elan fehlte. Einmal verheiratet, hat er weitergelebt wie zuvor, für sich allein. Ich war ein Teil seines Hauses. So etwas wie eine Angestellte auf einem Vertrauensposten. Ich weiß nicht, ob er später noch etwas von Raymond gehört hat, aber als der Junge eines Tages zufällig ein Bild von ihm sah und nach ihm fragte, hat er nur geantwortet: Ein Vetter, der auf die schiefe Bahn geraten ist.«
    Maigret war sehr ernst und tief bewegt, denn hier wurde ihm ein ganzes Leben geschildert. Mehr als ein Leben, das Leben eines Hauses, einer Familie!
    Fünfzehn Jahre hatte es gedauert. Es waren neue Dampfer gekauft worden. Hier in diesem Salon hatte es Empfänge gegeben, war man zum Bridge und zum Tee zusammengekommen. Kinder waren getauft worden.
    In den Sommern Ouistreham und die Berge.
    Und jetzt war Madame Grandmaison so erschöpft, daß sie sich in einen Sessel sinken ließ und sich mit einer Hand müde über das Gesicht strich.
    »Ich verstehe das nicht«, stammelte sie. »Dieser Kapitän, den ich nie gesehen habe … Glauben Sie wirklich, daß …«
    Maigret horchte auf, ging die Tür öffnen. Auf dem Treppenabsatz stand der alte Kassierer mit bangem Gesicht, doch sein Respekt verbot es ihm, ins Zimmer zu treten. Fragend sah er den Kommissar an.
    »Monsieur Grandmaison ist tot. Benachrichtigen Sie bitte den Hausarzt. Den Angestellten und dem Hauspersonal sagen Sie vorläufig noch nichts.«
    Er schloß die Tür wieder und hätte beinahe seine Pfeife aus der Tasche gezogen, doch ließ er es sein und zuckte nur mit den Schultern.
    Ein seltsames Gefühl der Achtung, der Sympathie dieser Frau gegenüber war in ihm aufgekommen. Dabei war sie ihm, als er sie das erstemal getroffen hatte, wie eine nichtssagende Dame der Gesellschaft erschienen.
    »Hat Ihr Mann Sie vorgestern nach Paris geschickt?«
    »Ja. Ich wußte nicht, daß Raymond in Frankreich war. Mein Mann hatte mich lediglich aufgefordert, meinen Sohn aus dem Stanislas zu holen und ein paar Tage mit ihm im Süden zu verbringen. Den Grund verstand ich nicht, aber ich gehorchte ihm. Doch als ich dann im Hôtel

Weitere Kostenlose Bücher