Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
weiter bringen. Sooft Gallet im ›Hôtel de la Loire‹ abstieg, was anscheinend hin und wieder vorkam, trug er sich als Monsieur Clément, Rentner aus Orléans, ein …«
»Trinken wir einen Aperitif!« schlug Maigret vor.
Er erinnerte sich an die gemütliche Atmosphäre auf der Kaffeehausterrasse, die ihm vor einer Stunde als verlockende Zuflucht erschienen war.
Aber als er vor seinem eisgekühlten Bier saß, blieb das erwartete Hochgefühl aus.
»Die aussichtsloseste Untersuchung, die man sich vorstellen kann«, seufzte sein Gegenüber. »Sie werden mir beipflichten müssen. Kein einziger Anhaltspunkt! Überhaupt nichts Ungewöhnliches, außer der Tatsache natürlich, daß der Mann ermordet wurde …«
Minutenlang fuhr er in diesem Ton fort, ohne zu bemerken, daß der Kommissar kaum hinhörte.
Es gibt Menschen, deren Gesicht man nicht vergißt, obgleich man ihnen ein einziges Mal auf der Straße begegnet ist. Was Emile Gallet betraf, so hatte Maigret nur eine Fotografie, einen halben Kopf und einen leichenfahlen Körper gesehen.
Und jetzt versuchte er das Bild des lebenden Emile Gallet heraufzubeschwören, versuchte ihn sich vorzustellen, beim trauten Tête-à-tête mit seiner Frau, im Eßzimmer seiner Villa in Saint-Fargeau, auf dem Weg zum Bahnhof, wo er auf seinen Zug wartete.
Bisweilen tauchte blitzartig die Erinnerung an den oberen Gesichtsteil des Mannes vor ihm auf und erlosch sogleich wieder. Aber er war fast sicher, daß Gallet graue Tränensäcke unter den Augen gehabt hatte.
»Ich wette, er war leberkrank!« entfuhr es ihm.
»Und wenn schon«, erwiderte der Inspektor gereizt. »Daran ist er jedenfalls nicht gestorben. Eine Leberkrankheit reißt einem nicht das halbe Gesicht weg und durchbohrt einem auch nicht das Herz!«
Auf dem Platz flammten die Lichter einer Schießbude auf, und daneben wurde ein Karussell demontiert.
2
Ein junger Mann mit Brille
Nur an zwei, drei Tischen saßen noch Gäste. Aus den Zimmern im ersten Stock drang das Protestgeschrei von Kindern, die nicht schlafen gehen wollten. Eine Frauenstimme ertönte hinter einem offenen Fenster:
»Hast du den dicken Herrn gesehen? Das ist ein Polizist! Wenn du nicht brav bist, holt er dich und steckt dich ins Gefängnis …«
Während Maigret sich schweigend in sein Essen vertiefte und von Zeit zu Zeit seine Umgebung musterte, summte es ununterbrochen an seinem Ohr. Inspektor Grenier aus Nevers redete, weil er sich gern reden hörte.
»Wenn man ihm wenigstens etwas abgenommen hätte! Dann wäre das Ganze ein Kinderspiel. Heute ist Montag … Das Verbrechen wurde in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag verübt. Am gleichen Abend fand hier ein Fest statt, und bei solchen Gelegenheiten treibt sich bekanntlich allerhand verdächtiges Gesindel herum, ganz abgesehen von den Schaustellern, denen ich grundsätzlich nicht über den Weg traue. Sie wissen ja gar nicht, was auf dem Land alles passieren kann, Kommissar! Es gibt hier schlimmere Typen als in Ihrer Pariser Unterwelt …«
»Mit anderen Worten«, unterbrach ihn Maigret, »man hätte das Verbrechen eher entdeckt, wenn dieses Fest nicht stattgefunden hätte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Daß man vor lauter Schießbudenlärm und Knallfröschen den Schuß nicht gehört hat … Haben Sie nicht gesagt, Gallet sei nicht an seiner Kopfwunde gestorben?«
»So sagt der Arzt, und die Autopsie wird ihm vermutlich recht geben. Der Mann wurde zuerst durch einen Kopfschuß verletzt. Es ist möglich, daß er danach noch zwei, drei Stunden hätte leben können. Aber gleich darauf wurde er mit einem Messer erstochen. Der Stich drang mitten ins Herz, und der Tod trat augenblicklich ein. Das Messer ist gefunden worden.«
»Und der Revolver?«
»Den haben wir vergeblich gesucht.«
»Lag das Messer im Zimmer?«
»Wenige Zentimeter von der Leiche entfernt. Und Gallet hat blaue Flecke am linken Handgelenk. Wahrscheinlich hat er sich trotz der Schußwunde mit gezücktem Messer auf seinen Angreifer gestürzt. Aber die Kräfte ließen ihn im Stich. Der Mörder packte sein Handgelenk, drehte es um und stieß ihm das Messer in die Brust. Das sage nicht nur ich, das sagt auch der Arzt.«
»Was bestätigt, daß Gallet ohne dieses Fest nicht gestorben wäre!«
Es lag keineswegs in Maigrets Absicht, seinen Kollegen vom Land mit scharfsinniger Logik zu beeindrucken. Das Fest beschäftigte ihn. Er spann den Gedanken weiter, neugierig, was dabei herauskommen würde.
Ohne den Lärm des Karussells, der
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