Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
…«
»Ah! …«
Die Fahrt nahm kein Ende. Von Zeit zu Zeit trat Maigret in den Korridor, um schnell eine Pfeife zu rauchen. Sein Hemdkragen war von der Hitze und dem reichlichen Schwitzen aufgeweicht. Er beneidete Madame Gallet, die unberührt von den drei- oder vierunddreißig Grad im Schatten in der gleichen aufrechten Haltung verharrte wie bei der Abfahrt, die Tasche auf den Knien, die Hände auf der Tasche, den Kopf halb der Abteiltür zugedreht, als säße sie im Autobus.
»Wie ist … dieser Mann umgebracht worden?«
»Das geht aus dem Telegramm nicht hervor. Soviel ich verstanden habe, wurde er am Morgen tot aufgefunden.«
Madame Gallet erschauerte, schluckte leer, öffnete den Mund.
»Das kann unmöglich mein Mann gewesen sein. Die Karte beweist es, nicht wahr? Im Grunde hätte ich mir diese Fahrt ersparen können …«
Maigret wußte selbst nicht genau, weshalb er plötzlich bedauerte, das Foto auf dem Klavier nicht mitgenommen zu haben. Schon jetzt konnte er sich überhaupt nicht mehr an die obere Gesichtshälfte erinnern. Das einzige, was er deutlich vor sich sah, waren der viel zu breite Mund, der Spitzbart, die schlechtgeschnittene Schulterpartie des Jacketts.
Es war sieben Uhr abends, als der Zug im Bahnhof Tracy-Sancerre einfuhr. Von dort aus mußten sie noch einen Kilometer weit die Hauptstraße entlanggehen und dann die Hängebrücke über der Loire passieren.
Der Strom zeigte sich hier keineswegs von seiner majestätischen Seite. Er schien vielmehr aus unzähligen Rinnsalen zu bestehen, die sich zwischen gelbbraunen Sandbänken einen Weg bahnten.
Auf einer dieser Sandinseln, deren Farbe an überreifen Weizen erinnerte, stand ein Mann in einem Nanking-Anzug und angelte. Gelb war auch die Fassade des ›Hôtel de la Loire‹, das jetzt vor ihnen aufragte.
Die Sonne stand schon schräg, aber die vom Wasserdampf gesättigte Luft war so stickig, daß man kaum atmen konnte.
Wieder war es Madame Gallet, die voranging, und Maigrets Gesicht verfinsterte sich, als er in der Nähe des Hotels einen Mann, in dem er einen Kollegen witterte, auf und ab gehen sah. Er war sich bewußt, welch lächerliches Paar er mit seiner Begleiterin abgab.
Sommerlich gekleidete Urlaubsgäste, Familien zumeist, bevölkerten die Hotelveranda, und Kellnerinnen in weißen Schürzen und Häubchen eilten ein und aus.
Neben dem Haupteingang prangte ein Schild mit dem Namen des Hotels und den Wappen verschiedener Klubs. Madame Gallet steuerte geradewegs auf die Tür zu.
»Kriminalpolizei?« fragte der vor dem Eingang postierte Beamte. Maigret blieb stehen.
»Ja … Und?«
»Man hat ihn ins Rathaus gebracht. Beeilen Sie sich. Die Autopsie beginnt um acht. Sie kommen gerade noch rechtzeitig …«
Rechtzeitig, um einen toten Mann kennenzulernen! Um eine Aufgabe zu erfüllen, die Maigret nach wie vor als eine mühsame und widerwärtige Pflicht betrachtete.
Später würde er Muße finden, sich diese zweite, unwiderruflich letzte Begegnung in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen.
In der gewitterschwülen Beleuchtung dieses Juniabends wirkte das ganze Städtchen grell weiß. Auf der Hauptstraße tummelten sich Hühner und Gänse. Unter einem Vordach, fünfzig Meter weiter, beschlugen zwei Männer in blauen Schürzen ein Pferd.
Auf der Terrasse eines Cafés, schräg gegenüber dem Rathaus, saßen die Leute dicht gedrängt beim Aperitif. Aus dem Halbdunkel unter den rot-gelb gestreiften Markisen wehte ein Geruch, der an kühles Bier, an klirrende Eiswürfel, an eben eingetroffene Pariser Zeitungen erinnerte. Drei Autos parkten mitten auf dem Platz. Eine Krankenschwester hielt Ausschau nach einer Apotheke. Im Rathaus schrubbte eine Frau den grauen Steinboden.
»Verzeihung … Wo ist die Leiche?«
»Hinten im Schulhof. Die Herren sind alle da. Sie können hier entlanggehen …«
Sie deutete auf eine Tür mit der Aufschrift »Mädchen«. Die Aufschrift »Knaben« befand sich am anderen Flügel des Gebäudes.
Festen Schrittes ging Madame Gallet voraus. Sie wirkte unerwartet selbstsicher. Doch der Kommissar glaubte zu spüren, daß sie wie von einer Art Schwindel vorangetrieben wurde.
Im Schulhof rauchte ein Mann in weißem Arztkittel eine Zigarette und schritt dabei wartend auf und ab. Von Zeit zu Zeit rieb er sich die feinen Hände.
Zwei andere Männer standen neben einem Tisch, auf dem die mit einem weißen Tuch bedeckte Leiche lag, und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme.
Der Kommissar versuchte seine
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