Maigret und die Tänzerin Arlette
sehr fest auf den Füßen stand, hielt sie sich mit beiden Händen an dem Holzgitter fest, das den für das Publikum bestimmten Raum abgrenzte.
»Es handelt sich um ein Verbrechen.«
»Ein Verbrechen? Wo soll das denn passiert sein?«
An der Wand hing eine große elektrische Uhr, auf die sie unverwandt starrte, als ob sie aus dem Stand der Zeiger etwas zu erraten versuchte.
»Ich weiß nicht, ob es schon passiert ist.«
»Nun, dann ist’s ja kein Verbrechen.«
Der Wachtmeister zwinkerte seinem jungen Kollegen zu.
»Es wird wahrscheinlich begangen. Es wird bestimmt begangen.«
»Wer hat dir das gesagt?«
Sie schien angestrengt nachzudenken.
»Die beiden Männer eben.«
»Was für Männer?«
»Gäste. Ich arbeite im Picratt.«
»Dachte ich mir doch, daß ich dich schon mal gesehen habe. Du bist die mit der Nackedei-Szene, wie?« Der Wachtmeister hatte sich zwar die Vorführungen im Picratt noch nie angesehen, aber er kam jeden Morgen und jeden Abend an dem Schaukasten vorüber, in dem ein großes Bild des hier vor ihm stehenden Mädchens hing, neben kleineren von zwei anderen Tänzerinnen.
»Also Gäste haben dir etwas von einem Verbrechen erzählt?«
»Mir nicht.«
»Wem dann?«
»Sie unterhielten sich.«
»Und du hast es mitangehört?«
»Ja. Ich hab’ aber nicht alles verstanden, weil eine Wand dazwischen war.«
Auch das verwunderte Wachtmeister Simon nicht. Jeden Morgen, wenn er an dem Nachtlokal vorüberkam, stand dort immer die Tür offen, weil man gerade putzte. Und er konnte dann in dem dunklen, ganz in Rot gehaltenen Raum mit der leuchtenden Tanzfläche längs der Wände die kleinen abgeteilten »Logen« sehen.
»Wann war das?«
»Heute nacht, vor zwei Stunden etwa. Ja, es muß schon zwei Uhr gewesen sein. Ich war erst einmal aufgetreten.«
»Was haben die beiden gesagt?«
»Der ältere hat gesagt, er werde die Gräfin kaltmachen.«
»Was für eine Gräfin?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Wann wollte er sie kaltmachen?«
»Wahrscheinlich heute.«
»Hat er denn nicht gewußt, daß du ihn hören könntest?«
»Er wußte nicht, daß ich auf der anderen Seite der Wand stand.«
»Warst du dort allein?«
»Nein. Mit einem anderen Gast.«
»Den du kennst?«
»Ja.«
»Wer ist das?«
»Ich weiß nur seinen Vornamen. Er heißt Albert.«
»Hat er es auch gehört?«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum hat er es nicht gehört?«
»Weil er meine beiden Hände hielt und zu mir sprach.«
»Von Liebe?«
»Ja.«
»Und du, du hast gehört, was man sich in der Nebenloge erzählte? Kannst du dich genau an die Worte erinnern, die gesprochen wurden?«
»Nicht genau.«
»Bist du betrunken?«
»Ich hab’ eine Menge getrunken, aber ich weiß noch genau, was ich sage.«
»Säufst du jede Nacht soviel?«
»Nicht soviel.«
»Hast du mit Albert getrunken?«
»Nur eine Flasche Champagner. Ich wollte nicht, daß er sich unnütz Kosten macht.«
»Ist er nicht reich?«
»Er ist noch jung.«
»Ist er in dich verliebt?«
»Ja. Er möchte, daß ich dort nicht mehr auftrete.«
»Du warst da also bei ihm, als die beiden Gäste kamen und in der Nebenloge Platz nahmen.«
»Ja, ganz richtig.«
»Hast du sie nicht gesehen?«
»Als sie gegangen sind, hab’ ich sie von hinten gesehen.«
»Sind sie lange geblieben?«
»Wohl eine halbe Stunde.«
»Haben sie mit deinen Kolleginnen Champagner getrunken?«
»Nein, ich glaube, sie haben Kognak bestellt.«
»Und sie haben dann gleich angefangen, von der Gräfin zu sprechen?«
»Nicht gleich. Anfangs habe ich nicht auf ihre Worte geachtet. Zuerst verstand ich so was wie: ›Bedenk doch, sie besitzt noch den größten Teil ihrer Juwelen, aber bei dem Leben, das sie führt, wird das nicht mehr lange dauern.‹«
»Was war das für eine Stimme?«
»Eine Männerstimme. Die Stimme eines älteren Mannes. Als sie gingen, hab’ ich gesehen, daß der eine von den beiden ein kleiner Dicker mit grauem Haar war. Der war es sicher.«
»Warum?«
»Weil der andere jünger war und die Stimme nicht wie die eines jungen Mannes geklungen hatte.«
»Wie war er angezogen?«
»Ich habe nicht darauf geachtet. Ich glaube, dunkel. Vielleicht schwarz.«
»Hatten sie ihre Mäntel in der Garderobe abgegeben?«
»Vermutlich.«
»Also er hat gesagt, die Gräfin besäße noch einen Teil ihrer Juwelen, aber bei dem Leben, das sie führe, werde das nicht mehr lange dauern.«
»Ja, das hat er gesagt.«
»Und dann hat er davon geredet, er wolle sie umbringen?«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher